BERLIN/LONDON/PARIS/WASHINGTON (Eigener Bericht) - Nach den Protesten mehrerer 
europäischer Regierungschefs gegen das deutsch-französische Diktat bei 
der Euro-Reform letzte Woche wächst EU-weit der Unmut über die 
zunehmenden Alleingänge Berlins. Dass die deutsche Kanzlerin sich mit 
dem Staatspräsidenten Frankreichs auf einen sogenannten 
Euro-Krisenmechanismus geeinigt habe, ohne die Regierungen aller anderen
 25 EU-Staaten einzubeziehen, sei inakzeptabel, heißt es in Brüssel im 
Rückblick auf den aktuellen EU-Gipfel. Kritische Äußerungen über die 
deutsche EU-Hegemonialpolitik nehmen zu, seit Berlin während der 
Euro-Krise im Frühjahr mehr und mehr dazu überging, die Brüsseler 
Entscheidungen unverhüllt zu dominieren. Seitdem sprechen unter anderem 
französische, britische und US-amerikanische Medien von einer neuen 
"deutschen Frage", welche die europäische Politik im 21. Jahrhundert 
begleiten werde. US-Beobachter schließen einen Zusammenbruch der EU 
angesichts des deutschen Machtstrebens nicht aus und rechnen für diesen 
Fall mit einem deutsch-russischen Bündnis zunächst ökonomischer, dann 
auch militärischer Art.
 
Deutsch-französisches Direktorat
Nach den Protesten mehrerer europäischer 
Regierungschefs auf dem EU-Gipfel letzte Woche wächst EU-weit der Unmut 
über die zunehmenden Alleingänge Berlins. Auf dem EU-Gipfel hatten die 
deutsche Kanzlerin und der französische Staatspräsident Pläne zur Reform
 des Euro vorgelegt, auf die sie sich alleine bei einem bilateralen 
Treffen geeinigt hatten. Die Pläne sind überdies höchst umstritten: Sie 
beinhalten unter anderem die Forderung, EU-Mitgliedern bei gemeinsamen 
Entscheidungen das Stimmrecht zu entziehen, wenn sie sich den von Berlin
 oktroyierten Brüsseler Haushaltsregeln nicht beugen wollen oder können.
 Der deutsch-französische Versuch, die Pläne ohne eine ernsthafte 
Abstimmung mit den 25 anderen EU-Mitgliedern durchzusetzen, stieß auf 
heftigen Widerstand. Beschwerden über ein "deutsch-französisches 
Direktorat" waren zu hören, Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker sprach 
von "schlicht schlechtem Stil". Der von Berlin verlangte Entzug der 
Stimmrechte sei "nicht akzeptabel", erklärte selbst der Deutschland 
gewöhnlich zugeneigte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso.[1]
 
Rücksichtslos
Kritische Äußerungen über die deutsche 
EU-Hegemonialpolitik nehmen zu, seit Berlin während der Euro-Krise im 
Frühjahr mehr und mehr dazu überging, die Brüsseler Entscheidungen 
unverhüllt zu dominieren. Bereits Ende März urteilte die britische 
Financial Times, die deutsche Kanzlerin habe mit ihrem rücksichtslosen 
Vorgehen die "deutsche Frage wiedereröffnet".[2] Wenig später schloss 
sich die französische Wirtschaftspresse dieser Ansicht an; Berlin 
verlange etwa mehr Stimmrechte, wolle aber gleichzeitig seine Zahlungen 
an Brüssel möglichst reduzieren, klagte die Tageszeitung Les Echos.[3] 
Anfang Mai rief auch die Tageszeitung The New York Times eine neue 
"deutsche Frage" aus.[4] Vor wenigen Tagen schaltete sich schließlich 
das britische Wirtschaftsmagazin "The Economist" in die Debatte ein - 
mit Äußerungen, die eine weit verbreitete Unruhe wiedergeben.
 
Deutsche Selbstgerechtigkeit
Wie der "Economist" schreibt, habe die Krise "eine 
neue Hackordnung" geschaffen: Deutschland stehe mit seinen 
Exporterfolgen "an der Spitze, der Rest muss sich anpassen, Frankreich 
inklusive". Man bekomme "ein enormes Gefühl von deutscher 
Selbstgerechtigkeit, die sehr schwer zu ertragen ist", zitiert das Blatt
 einen Experten vom International Institute for Strategic Studies.[5] 
Die deutsche Führung zeige sich deutlich. Deutschland unterhalte 
konkurrenzlose Handelsbeziehungen zu aufsteigenden Mächten wie China; 
allein die Hälfte der EU-China-Exporte stamme aus der Bundesrepublik. 
Berlin könne mit Erfolg führende Positionen in EU-Institutionen 
beanspruchen: Der Europa-Berater der deutschen Kanzlerin, Uwe Corsepius,
 werde Generalsekretär des Europäischen Rates, Bundesbank-Chef Axel 
Weber gelte als Favorit für das Amt des Präsidenten der Europäischen 
Zentralbank. "Bei europäischen Planungen gibt Deutschland oft den Ton 
an", urteilt das Blatt - und erinnert exemplarisch daran, dass die 
europäische Fluthilfe für Pakistan erst starten konnte, als die 
Bundesregierung sich der Ansicht angeschlossen hatte, die 
Flutkatastrophe sei wirklich schlimm.
 
Zusammenbruch nicht ausgeschlossen
Angesichts des unverhohlenen deutschen 
Dominanzstrebens, das immer öfter Widerspruch weckt, schließen 
US-Beobachter einen Zusammenbruch der EU nicht aus. Gegenwärtig werde 
diskutiert, was die EU-Staaten einander schuldeten und wieviel Kontrolle
 über die einzelnen Mitglieder der EU zustehe, heißt es in einer Analyse
 des US-Thinktanks STRATFOR. Jedoch sei die Bereitschaft, finanziell für
 andere EU-Staaten einzustehen, ebenso beschränkt wie die Bereitschaft, 
sich der EU bedingungslos unterzuordnen. Zwar sei damit zu rechnen, dass
 der Euro und die EU die aktuelle Krise überstünden; doch ließen sich 
auch in Zukunft Krisen nicht völlig vermeiden, und Brüssel besitze 
"keine Institutionen, die diese Probleme behandeln könnten".[6] Eine 
ernsthafte weitere Integration der EU-Institutionen sei schwer 
vorzustellen; leicht hingegen lasse sich ahnen, wie die EU sich trotz 
ihrer ambitionierten Visionen in ein kraftloses Bündnis verwandeln 
könne. "Einen Superstaat zu errichten erfordert eines von zwei Dingen: 
einen Krieg, um festzustellen, wer der Chef ist, oder politische 
Einstimmigkeit, um einen Vertrag zu schmieden", urteilt STRATFOR. 
"Europa demonstriert lebhaft die Beschränkungen der zweiten Strategie."
 
Die russische Alternative
Wie STRATFOR weiter feststellt, habe die Krise 
bestätigt, dass die Bundesrepublik "eindeutig das Gravitationszentrum 
Europas" sei: "Wenn Deutschland nicht zustimmt, kann nichts getan 
werden, und wenn Deutschland es so wünscht, wird etwas getan werden. 
Deutschland hat eine ungeheuere Macht in Europa". Zugleich sei die 
Bundesrepublik "das einzige Land in Europa mit der Fähigkeit, 
alternative Koalitionen zu schaffen, die mächtig und bindend sind". Es 
lohne daher, "Alternativen zu einem Deutschland in der EU zu erkunden". 
STRATFOR kommt dabei zu dem Ergebnis: "Die historische Alternative für 
Deutschland ist Russland gewesen."[7] Die Bundesrepublik brauche Öl und 
Erdgas, während Russland Technologie und Kapital benötige; die beiden 
Länder könnten ihre Bedürfnisse gegenseitig decken. Tatsächlich arbeiten
 Berlin und Moskau schon längst daran - im Rahmen der sogenannten 
"Modernisierungspartnerschaft" (german-foreign-policy.com berichtete 
[8]). "Wir würden argumentieren", erklärt der US-Thinktank entsprechend,
 "dass eine deutsche Koalition mit Russland das einleuchtendste Ergebnis
 eines Abstiegs der EU wäre" - als zunächst wirtschaftliches, 
perspektivisch aber auch militärisches Bündnis für einen alternativen 
deutschen Aufstieg zur Weltmacht.