BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) - Deutsche Außenpolitiker 
debattieren über ein Ende der "europäische(n) Ordnung von Maastricht". 
In Berlin gewinne man "zunehmend den Eindruck", Deutschland glaube 
"alleine schneller, weiter und besser vorwärts kommen" zu können als im 
europäischen Verbund, heißt es in einem neu veröffentlichten 
Diskussionspapier aus dem Berliner Büro des Thinktanks European Council 
on Foreign Relations (ECFR). So wendeten unter anderem die 
"industriellen Eliten" der alten Bundesrepublik im Kampf um 
Weltmarktanteile "ihren Blick schon seit langem von Europa ab". 
"Jenseits der offiziellen Rhetorik" verliere das seit 1949 gültige 
außenpolitische Paradigma der europäischen Integration mittlerweile 
deutlich an Gewicht. Im EU-Ausland sei "auch von besonnenen 
Gesprächspartnern" inzwischen die sorgenvolle Frage zu hören, "ob man 
Angst vor einem neuen, nationalen Deutschland haben muss". Gleichzeitig 
büßten die transatlantischen Bindungen ihre vormalige Kraft ein. Damit 
"verblassen zwei zusammenhängende Friedensordnungen, die das 20. 
Jahrhundert bestimmt haben", urteilt der ECFR. Im Mittelpunkt der 
Verschiebungen steht dem Thinktank zufolge der Machtgewinn der 
Bundesrepublik seit 1990: Es stelle sich "eine neue 'deutsche Frage' für
 das 21. Jahrhundert".
Nach deutschem Modell
Wie es in dem Diskussionspapier des ECFR heißt, sei 
"das europäische Selbstverständnis" der alten Bundesrepublik "spätestens
 seit der 'Normalisierungspolitik' unter Bundeskanzler Gerhard Schröder 
erodiert".[1] Bonn habe von 1949 bis 1989, "unterstützt von den USA und 
angetrieben durch die Erblast des Zweiten Weltkriegs", stets die 
sogenannte europäische Integration gepflegt. Dabei habe sich die 
deutsche "finanzielle Großzügigkeit" in "europäischem Machtzuwachs" 
ausgezahlt: Die Bonner Republik habe "das europäische System weitgehend 
nach (ihren) sozioökonomischen und juristischen Vorstellungen zu 
gestalten" vermocht - "siehe Binnenmarkt und Euro". Letztlich sei sie 
auf diese Weise "zum Hauptpfeiler der EU" geworden. Inzwischen jedoch 
träten "die schleichenden und langsamen Verschiebungen der letzten zwei 
Jahrzehnte offen zu Tage": "Die Akzente der deutschen Europapolitik 
haben sich deutlich verschoben."
 
Jenseits offizieller Rhetorik
Dem ECFR zufolge tritt die gestärkte Bundesrepublik in
 der EU heute offener für ihre "nationalen Interessen" ein. Dabei würfen
 die EU-Staaten der Bundesregierung "zunehmend Alleingänge oder eine 
Blockade-Haltung vor"; die Berliner Politik werde im europäischen 
Ausland sogar "teilweise schon als Diktat empfunden". Zwar habe sich der
 deutsche Außenminister erst kürzlich erneut zur europäischen 
Integration bekannt. Doch sei völlig unverkennbar, dass sich "jenseits 
der offiziellen Rhetorik" das außenpolitische Paradigma Deutschlands 
verschoben habe. Die Autorin des ECFR-Diskussionspapiers, eine 
innereuropäisch wie transatlantisch bestens vernetzte Außenpolitikerin, 
konstatiert ein "unterschwellige(s) Denken der neuen 'Berliner 
Republik', Europa nicht länger zu brauchen".
 
Alleine schneller
Wie es in dem Papier heißt, wendeten die im Kampf um 
Weltmarktanteile stehenden "industriellen Eliten" der alten 
Bundesrepublik den "Blick schon seit langem von Europa ab". Die EU gelte
 ihnen allenfalls noch als nützliche "Basis für globale Marktstrategien"
 gegenüber aufstrebenden Mächten wie China, Indien und Brasilien. 
Zugleich beklagten sie sich "über die unproduktiven europäischen 
Partner", die Abflüsse aus dem deutschen Staatshaushalt verursachten - 
übersähen aber gewöhnlich die für sie äußerst vorteilhafte, "fast 
parasitäre Position", welche die aus der anhaltenden Schwäche der 
Nachbarstaaten resultierende "deutsche Exportdynamik im europäischen 
Binnenmarkt innehat". Mit Blick auf das politische Establishment urteilt
 der ECFR, Deutschland verfüge heute "über mehr ökonomische und 
gleichzeitig politische Macht" als Frankreich; damit sei die 
Notwendigkeit, Paris mit seinem politisch-militärischen Potenzial 
sorgsam einzubinden, nicht mehr im selben Maße wie früher gegeben. 
"Zusammengefasst", berichtet die Autorin, "gewinnt man in Berlin 
zunehmend den Eindruck, Deutschland fühle sich von Europa 
zurückgehalten", es glaube "alleine schneller, weiter und besser 
vorwärts kommen" zu können.
 
Das Ende von Maastricht und Jalta
Damit "verblassen zwei zusammenhängende 
Friedensordnungen, die das 20. Jahrhundert bestimmt haben", heißt es 
beim ECFR - die "europäische Ordnung von Maastricht" und die 
"transatlantische Ordnung von Jalta". Denn gleichzeitig mit der Abkehr 
von Teilen der deutschen Eliten von der EU zögen sich "die USA von dem 
europäischen Kontinent zurück", wohingegen Europa "unterwegs" sei, "eine
 Partnerschaft ganz neuer Dimension mit Russland anzustreben".
 
Medialer Autismus
Angesichts der weltpolitischen Tragweite der aktuellen
 Umbrüche hat das Berliner Büro des ECFR letzte Woche ein Programm 
"Deutschland in Europa" gestartet, das die in dem vorliegenden Papier 
umrissenen Entwicklungen zum Gegenstand ausführlicher Diskussionen 
machen soll. Teile des Programms sind Diskussionsveranstaltungen sowie 
das aktuelle Diskussionspapier. Eine mediale Grundlage für eine solche 
Debatte sei in Deutschland derzeit nicht gegeben, meint der ECFR: "Die 
deutschen Leitmedien drehen sich zunehmend um 'Berlin' und entwickeln 
dabei einen gewissen Autismus", der jegliche "Diskursfähigkeit mit dem 
europäischen Ausland" zunichte mache. Dabei werde "vor allem in Berlin 
entschieden, ob Europa sein globales Potential im 21. Jahrhundert voll 
ausschöpfen will und wird". In der EU könne "nichts ohne, geschweige 
denn gegen Deutschland" geschehen. "Für alle strategischen 
Zukunftsfelder einer globalen, europäischen Politik (...) kommt 
Deutschland daher eine Schlüsselrolle zu!", schreibt die Autorin vom 
ECFR mit Blick auf die nun angestoßene Debatte.
 
Hauptgewinner
Um die EU zu retten, schlägt das 
ECFR-Diskussionspapier eine "neue europäische Nüchternheit" vor. In 
Berlin müsse einerseits evaluiert werden, "welchen Vorteil gerade 
Deutschland von Europa hat", andererseits, "was Europa kosten soll und 
darf". "Deutschland muss sich entscheiden", heißt es, "ob es im 
Alleingang aus der Europäischen Integration herauswachsen möchte, oder -
 als Hauptdarsteller und Hauptgewinner zugleich - ganz Europa in eine 
neue globale Rolle im 21. Jahrhundert führen möchte." Den 26 weiteren 
EU-Mitgliedstaaten legt das ECFR-Papier eine freiwillige Unterordnung 
nahe. "Die europäischen Partner", heißt es weiter, "sollten indes alles 
tun, um Deutschland diesen Schritt zu einem solidarischen und starken 
(...) Europa zu erleichtern".
 
Über auswärtige Beobachtungen und Einschätzungen zum 
deutschen Dominanzstreben in der EU und über die EU hinaus berichtet 
german-foreign-policy.com am morgigen Mittwoch.
 
[1] Sämtliche Zitate sind entnommen aus: Ulrike 
Guérot: Wie viel Europa darf es sein? Überlegungen zu Deutschlands Rolle
 im Europa des 21. Jahrhunderts. Ein Diskussionspapier, ecfr.eu 
28.10.2010