Zuvörderst: Uns interessiert nicht der Bahnhof, uns interessiert allein das Spektakel von Widerstand, welches man als Stuttgarter_in in diesen Wochen zwischen Nordflügel und mittlerem Schloßpark erleben darf. Da ständig alle betonen, wie breit und basisgetragen dieser Protest sei, werden wir ihn in seiner Breite wahr- und vor allem ernst nehmen.
Das ist schon etwas Neues, zumal für Stuttgart. Alle sind auf der Straße; regelmäßig über fünfzigtausend bei Demonstrationen, man könnte gerade meinen, es ginge um irgendetwas. Aber wenn die Hauptstadt des Armenhauses Europas, Stuttgart, auf die Straße geht, dann tragen sie keine roten Fahnen, sondern das Konterfei von Paul Bonatz. Das ist der Architekt des vom Teilabriss bedrohten Bahnhofsgebäudes, der seinerzeit als Vertreter der „Stuttgarter Schule“ die Weißenhofsiedlung als „Vorstadt Jerusalems“ und „Ställe für Menschenbestien“ bezeichnet hat. In gleicher Manier des städteplanerischen Denkens wird dann auch die neue Bibliothek als „Bücherknast“ bezeichnet. Das verträgt sich auch gut mit jenem gern gezeigten Transparent von der „Vertreibung aus dem Filzlaus-Paradies“, bei welchem zwei Kämme, einer mit „Volkszorn“ beschriftet, der andere mit „Wahrheit“, gegen die Filzläuse angehen.
Ein „Tali-Bahn-Projekt“ sei der Bahnhofsneubau, denn, so eine Stuttgarter Grünen-Stadträtin, wäre der Abriss des Bahnhofsgebäudes, immerhin eines potenziellen Weltkulturerbes, mit der Sprengung der Buddha-Statuen im Tal von Bamiyan durch die Taliban zu vergleichen. Hier kommt genau jene Haltung zum Ausdruck, die vom Rest der Republik zurecht und mit Häme als zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn wankend diagnostiziert wird.
Spannend wird es bei deutschem Protest in aller Regel, wenn 
Bäume oder gar Wald ins Spiel kommen. Ein mythisches Wesen ist der 
deutsche Wald schon immer gewesen, sein kleiner Bruder, der einzelne 
Baum, steht dem in nichts nach. Da wird ihm ein Schild umgehängt, mit 
der Aufschrift „Opfer“, da klagt sein Kollege neben ihm: „Wir Bäume 
überlebten das Kaiserreich, Weimar, Hitler und die Bombennächte.“ Und 
ängstigt sich: „Aber überleben wir Schuster, Mappus und Grube?“. 
Vermutlich nicht, aber das hält die „Schlipsträger gegen Stuttgart 21“ 
nicht davon ab, einen weiteren Baum mit Krawatten zu umknoten, während 
nebenan ein dicker Stamm von Plüschtieren bewacht wird. Denn: „Wo Bäume 
sterben müssen, stirbt auch die Menschlichkeit“.
Dagegen verwehren 
sich selbstverständlich auch die „Unternehmer gegen Stuttgart 21“, 
genauso wie die „Hausbesitzer und Ex-CDU-Wähler gegen Stuttgart 21“. Nur
 die Grünen wissen, dass man nicht immer nur dagegen sein soll und 
machen bessere Vorschläge: K21 vielleicht. Aber in 
Regierungsverantwortung, haben sie bereits wissen lassen, könne man das 
Projekt vermutlich auch nicht mehr stoppen.
Die Begeisterung, mit der
 die paar versprengten Stuttgarter Linken am Arsch der Bewegung kleben, 
ist nicht neu: „Wackersdorf, Gorleben, Stuttgart 21“. Die Genealogie 
prangt am Zaun an der Baustelle am Nordflügel; Geschichte wiederholt 
sich eben, nämlich „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“
 (Marx). Denn das linksdeutsche Schweigen in der gemeinsamen Aktion mit 
Heimatschützern hat Tradition und die Einheit der Bewegung geht 
selbstverständlich über das entschlossene Eintreten gegen stadtbekannte 
Nazis auf den Events im Schloßpark.
Kritik wird hier keineswegs geübt, im Gegenteil: Das Ressentiment ist die tragende Säule dieses Protests. Das Ressentiment speist sich aus dem Gefühl, betrogen worden zu sein und sich nun gegen diese „Sauerei“ wehren zu müssen. Die „falschen Zahlen“ erzürnen die Schwaben gegen jenes „Lügenpack“, welches sie selbst gewählt haben, als ob es bei Politik um Wahrheitsfindung ginge. Dabei wird auch immer lauter betont, dass es ja inzwischen gar nicht mehr um den Bahnhof gehe, sondern um mehr und vor allem direkte Demokratie.
Dass sich dabei die Art und 
Weise, mit der gerade „Mappus weg!“ gebrüllt wird, kaum von der 
unterscheidet, mit der sonst auf „Sozialschmarotzer“geschimpft wird, 
fällt einem schnell auf, wenn man eines der Groß-Events besucht hat. Die
 autoritären Charaktere mit Ordner-Binde achten mit Kehrwochendisziplin 
auf die Einhaltung der Demo-Ordnung oder verbieten die Auslage eines 
Flyers zur Skandalisierung eines homophoben Übergriffs in 
Stuttgart-West. Da blüht die Volksseele auf, wenn Wille und Macht so 
eins sind in der Bewegung.
Der Drang zur direkten Demokratie enthält 
kein Körnchen von weniger Staat, sondern allein den Willen zum direkten 
Durchgriff. Es geht der verfolgenden Unschuld weniger darum, die 
Geschäfte zu führen, sondern den Feind zu identifizieren. So ist man mit
 einer möglichen Egal21-Haltung oder gar mit Kritik an diesem Protest 
sehr schnell ein „Befürworter“, denn wer nicht für uns ist, ist gegen 
uns. Solches Denken hat neben dem Feind natürlich auch immer eine Lösung
 parat, so soll der „Kinderschinder Rech in Sicherheitsverwahrung“. 
Dafür soll dann vermutlich auch „unsere Polizei“ sorgen, die momentan 
noch von Schustermappusgrube „missbraucht“ wird, aber schon bald wieder 
dem Mob als williger Helfer gegen jene, die solche Einsätze wie am 
30.09. für gewöhnlich treffen, zur Seite stehen könnte. 
Sich von 
keiner Seite in diesem Spektakel vereinnahmen und sich nicht dumm machen
 zu lassen, ist hier die schier unlösbare Aufgabe der Kritiker_in. Denn 
entgegen aller Hoffnungen wurde bei diesen Protesten Themen wie 
Sozialabbau oder Rassismus nicht einfach vergessen; ihre Thematisierung 
liegt konträr zu den Interessen derer, die sowohl die Masse als auch die
 Klasse bei diesem Protest stellen.

