Quelle: 
    
Erstveröffentlicht: 
    
                    09.09.2010        
        BERLIN/WARSZAWA
(Eigener Bericht) - Die Deutsche Bahn AG und die 
Bundesregierung bieten den Opfern der "Reichsbahn"-Deportationen pro 
Überlebenden maximal 20 (zwanzig) Euro an. Die Auszahlung soll über 
mehrere Jahre gestreckt werden, so dass sich die Entschädigung der 
Anspruchsberechtigten, die in hohem Alter sind, durch Tod erledigt. Wer 
übrig bleibt, würde von der DB AG pro Monat etwa 55 Cent erhalten. Der 
Betrag gilt den gesundheitlichen Folgen der "Reichsbahn"-Beihilfe zum 
größten Menschheitsverbrechen, das über drei Millionen Bahn-Deportierte 
in die Konzentrations- und Zwangslager führte. Für die "Vermittlung" des
 DB-Angebots hat sich der gegenwärtige Vorstand der Bundesstiftung 
"Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" (EVZ) hergegeben. Wie es in einem 
Memorandum heißt, das die Bürgerinitiative "Zug der Erinnerung" gestern 
veröffentlichte, löst das DB-Angebot "unter den Betroffenen Unruhe aus 
(...) und beleidigt die Opfer, deren soziale Lage sie zur Annahme 
nötigt." Der mit der Bundesregierung abgestimmte Betrag sei "geeignet, 
sowohl in Deutschland wie im europäischen Ausland und weltweit Empörung 
hervorzurufen." Das an die Außenministerien und die Öffentlichkeit der 
ehemals okkupierten Staaten gerichtete Memorandum verlangt die umgehende
 Auszahlung eines Betrages, der an den Deportationseinnahmen der 
"Reichsbahn" orientiert ist. Für den Spätherbst und Winter ruft der "Zug
 der Erinnerung" zu Protesten auf den deutschen Bahnhöfen auf.
Laut einem 2009 veröffentlichten Gutachten [1] erhob 
die "Reichsbahn" für ihre Beihilfe zum Massenmord Beförderungsentgelte, 
die den Opfern Zahlungen in Millionenhöhe auferlegten. Die Gelder wurden
 an den Ausgangsbahnhöfen der Verschleppungen als Fahrkarten erhoben, 
bei den Vertretungskörperschaften der Deportierten in Form von 
Sammelrechnungen eingezogen oder den Finanzbehörden der okkupierten 
Staaten zum Zwangsausgleich vorgelegt. Als minimalen Einnahmebetrag, der
 über die "Reichsbahn"-Konten dem "Reichsverkehrsministerium" und damit 
dem deutschen Staat zufloss, nennt das Gutachten 445 Millionen Euro 
heutiger Währung.
2,2 Milliarden
Erbin dieser Einnahmen ist die Bundesrepublik 
Deutschland, die zugleich Alleineigentümerin der DB AG ist. Aber weder 
der deutsche Staat noch die Unternehmensnachfolger der "Reichsbahn" 
haben in den vergangenen 61 Jahren Anstrengungen unternommen, die 
Schulden zurückzuzahlen. Wie das "Memorandum über die Hilfe für Opfer 
der 'Reichsbahn'-Verbrechen" [2] feststellt, sind im Berliner 
Finanzministerium inzwischen 2,2 Milliarden Euro aufgelaufen, wenn eine 
Verzinsung in Höhe von 2,5 Prozent seit 1945 zugrundegelegt wird.
Lügenhaft
Um den Forderungen der überlebenden "Reichsbahn"-Opfer
 zu entgehen, behauptet das Finanzministerium, sämtliche Deportierten 
seien bereits entschädigt worden [3] - eine lügenhafte oder ahnungslose 
Behauptung, da die Bundesregierung im Parlament zugeben musste, dass sie
 noch nicht einmal die Anzahl der Anspruchsberechtigten kennt.[4] Über 
die "Reichsbahn"-Verschleppungen liegt Berlin angeblich kein 
Datenmaterial vor.
Eingespannt
Um der deutschen Seite entgegenzukommen, hatten 
Opferorganisationen aus Polen, der Ukraine, Weißrussland und Russland im
 März 2010 keinerlei Rechtsansprüche geltend gemacht, sondern Bahn und 
Bundesregierung lediglich um eine "humanitäre Geste" gebeten.[5] Von 
diesem Ansatz versprachen sie sich ein schnelles Einlenken des 
DB-Vorstands, der den gegenwärtigen Vorsitzenden der Unternehmens- und 
Staatsstiftung EVZ, Günther Saathoff, als "Vermittler" einspannte. Den 
Opferorganisationen wurde auferlegt, Stillschweigen zu bewahren, so dass
 eine aktive Unterstützung der Öffentlichkeit behindert wurde.
Ablauf
Weil sie auf ein Einvernehmen mit den 
"Reichsbahn"-Nachfolgern hofften, willigten mehrere Opferorganisationen 
in das konspirative Vorgehen ein. Ihre Gutgläubigkeit zahlte sich nicht 
aus. Im August 2010 präsentierte der Verhandlungsführer der deutschen 
Seite das inzwischen unwesentlich nachgebesserte DB-EVZ-Angebot: maximal
 20 Euro je osteuropäischem Überlebenden der "Reichsbahn"-Deportationen,
 verteilt auf drei Jahre. Bei mindestens 200.000 Anspruchsberechtigten 
sollen sich die in hohem Alter befindlichen Opfer mit einem Monatsbetrag
 von 55 Cent zufrieden geben. Wegen der erheblichen Sterberate dürften 
nach Ablauf der drei Jahre nur noch 150.000 Empfänger die reich 
gefüllten Kassen der DB AG belasten.
Werthaltiger
Das Unternehmen hat Reisenden, die im Juli 2010 
Ansprüche wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen in überhitzten 
ICE-Zügen anmeldeten, pro Person 500 Euro ausgezahlt.[6] Der 
Gesamtbetrag, den der DB-Vorstand deswegen bewilligte (etwa drei 
Millionen Euro), entspricht fast genau der Summe, die derselbe Vorstand 
für die Folgen der NS-Deportationen als zahlbar und angemessen 
betrachtet. Demnach ist das stundenlange Schwitzen bei hohen 
Temperaturen um den Faktor Tausend werthaltiger als die zwangsweise 
Verfrachtung Hunderttausender in überfüllten Viehwaggons, die über 
mehrere Tage von der "Deutschen Reichsbahn", dem Unternehmensvorläufer 
der DB AG, verplombt und ohne Nahrung nach Theresienstadt oder Auschwitz
 gezogen wurden.
Expansion
Das DB-Angebot lässt sich an weiteren 
Finanzentscheidungen des deutschen Staatsunternehmens messen: 2,6 
Milliarden Euro investieren DB und Verkehrsministerium in den Umbau des 
Stuttgarter Hauptbahnhofs, 2,8 Milliarden stehen zur Verfügung, um den 
britischen Konkurrenten ARRIVA zu übernehmen.[7] Auch für die 
DB-Expansion nach Polen und in andere osteuropäische Staaten ist Geld 
reserviert. Dort will die DB von der EU-Liberalisierung des 
Schienenverkehrs profitieren.
Geschäfte
Ob die beabsichtigte DB-Expansion nach Polen 
angesichts der Opferreaktionen realistisch ist, wird in Warschau 
kontrovers diskutiert. Während die letzten Überlebenden einen Abbruch 
der DB-EVZ-Gespräche befürworten, schreckt der sozialdemokratische 
Elitenteil vor "fundamentalen" Antworten zurück und empfiehlt eine 
Interessenabwägung. Demnach rate es sich, Berlin in der Opferfrage 
nachzugeben und dafür deutsche Unterstützung bei den polnischen 
Subventionsforderungen an die EU zu erhoffen. Sie belaufen sich auf eine
 zweistellige Milliardensumme.
Sehr vernehmbar
Das angestrebte Geschäft auf Kosten der NS-Opfer stößt
 in der Bundesrepublik auf Widerstand. Der "Zug der Erinnerung" fordert 
einen Runden Tisch unter Beteiligung der in Deutschland lebenden 
"Reichsbahn"-Geschädigten.[8] Die DB solle außerdem zusagen, Ehrungen 
der ermordeten Deportierten auf den deutschen Bahnhöfen finanziell 
mitzutragen. "Wir werden unsere Forderungen bundesweit und sehr 
vernehmbar artikulieren", sagt Tatjana Engel, Vorstandsmitglied der 
Bürgerinitiative.
[1] Gutachten über die unter der NS-Diktatur erzielten
 Einnahmen der "Deutschen Reichsbahn" aus Transportleistungen zur 
Verbringung von Personen aus dem Deutschen Reich und dem okkupierten 
Europa in Konzentrationslager und ähnliche Einrichtungen sowie zwischen 
diesen Einrichtungen einschließlich ihrer Nebenstellen. Ohne 
Berücksichtigung der von der "Deutschen Reichsbahn" durchgeführten 
Transporte von Zwangsarbeitern. Berlin 2009.
[2] Memorandum über die Hilfe für Opfer der "Reichsbahn"-Verbrechen. Berlin 2010; www.zug-der-erinnerung.eu
[3] Schreiben vom 17.03.2010
[4] Deutscher Bundestag, Drucksache 16/9206, 15.05.2008
[5] Warschauer Erklärung. Warschau, März 2010; www.zug-der-erinnerung.eu
[6] Deutsche Bahn zahlt Millionen-Entschädigung für Hitzeopfer; Hannoversche Allgemeine Zeitung 29.08.2010
[7] Arriva-Deal unter Dach und Fach; manager magazin, 27.08.2010. S. dazu Sparen für die Expansion
[8] Memorandum über die Hilfe für Opfer der "Reichsbahn"-Verbrechen. Berlin 2010; www.zug-der-erinnerung.eu
[2] Memorandum über die Hilfe für Opfer der "Reichsbahn"-Verbrechen. Berlin 2010; www.zug-der-erinnerung.eu
[3] Schreiben vom 17.03.2010
[4] Deutscher Bundestag, Drucksache 16/9206, 15.05.2008
[5] Warschauer Erklärung. Warschau, März 2010; www.zug-der-erinnerung.eu
[6] Deutsche Bahn zahlt Millionen-Entschädigung für Hitzeopfer; Hannoversche Allgemeine Zeitung 29.08.2010
[7] Arriva-Deal unter Dach und Fach; manager magazin, 27.08.2010. S. dazu Sparen für die Expansion
[8] Memorandum über die Hilfe für Opfer der "Reichsbahn"-Verbrechen. Berlin 2010; www.zug-der-erinnerung.eu
