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                    13.07.2010        
        BERLIN/GAZA (Eigener Bericht) - Heftige Auseinandersetzungen um 
die deutsche Nahostpolitik begleiten das Verbot des Vereins 
Internationale Humanitäre Hilfsaktion (IHH) vom gestrigen Montag. Der 
deutsche Innenminister hat die Auflösung der Organisation angeordnet, 
weil sie im Gaza-Streifen ansässige Zusammenschlüsse finanziere, "die 
der Hamas zuzuordnen" seien. Damit setzt die Bundesregierung ihre 
Maßnahmen gegen die Hamas fort. Hingegen verlangen zahlreiche 
einflussreiche Regierungsberater sowie Außenpolitiker schon seit 
geraumer Zeit, die Isolation der Vereinigung zu beenden und einen 
"Dialog" mit ihr aufzunehmen. Man müsse "auch unbequeme Akteure in 
Lösungsansätze" einbinden, fordert die Leiterin der Forschungsgruppe 
Naher/Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Wie 
es in einem Strategiepapier der Stiftung heißt, könne bei einer 
Aufhebung der Gaza-Blockade die EU "Kontrollfunktionen" an der Grenze 
des Gebietes übernehmen und dabei helfen, die "auf Europa ausgerichtete 
Exportwirtschaft Gazas" wiederaufzubauen. Die Übernahme hoheitlicher 
Funktionen im Gaza-Streifen brächte Berlin sowie der EU erheblichen 
Einfluss und stärkte die eigenständige deutsch-europäische Position in 
Nahost.
Verboten
Der Bundesinnenminister hat den Verein Internationale 
Humanitäre Hilfsaktion (IHH) am gestrigen Montag verboten. Wie Thomas de
 Maizière erklärt, habe die IHH "seit einem langen Zeitraum und in 
beträchtlichem finanziellen Umfang" Hilfsorganisationen im Gaza-Streifen
 unterstützt, die "der Hamas zuzuordnen" seien.[1] Da einem Urteil des 
Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2004 zufolge "die sozialen 
Aktivitäten" der Hamas "nicht von dem terroristischen und politischen 
Vorgehen der Organisation getrennt werden" könnten, leiste die IHH "dem 
Terror und der Gewalt in den palästinensischen Gebieten Vorschub". Sie 
missbrauche "die Hilfsbereitschaft gutgläubiger Spender", um "mit dem 
für vermeintlich gute Zwecke gespendeten Geld im Ergebnis eine 
terroristische Organisation zu unterstützen". Die Auflösung der IHH ist 
sofort vollzogen worden.
Kontraproduktiv
Die Verbotsmaßnahme des Bundesinnenministers läuft 
Handlungsvorschlägen zuwider, die einflussreiche Regierungsberater in 
Berlin seit geraumer Zeit offensiv vortragen. Paradigmatisch hierfür ist
 ein Arbeitspapier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vom Juni 
2010, das von der Leiterin der SWP-Forschungsgruppe Naher/Mittlerer 
Osten, Muriel Asseburg, verfasst wurde. Wie es in dem Papier heißt, sei 
der Versuch, die Hamas mittels Gaza-Blockade sowie Isolation zu 
schwächen, vollständig gescheitert. Tatsächlich habe die Organisation 
"ihre Kontrolle über Territorium, politische Institutionen und die 
Gesellschaft des Gaza-Streifens" in den letzten Jahren "weiter 
konsolidieren" können. Dies sei kontraproduktiv. Die Isolationspolitik 
müsse daher durch "Kontakte und Dialoge" mit der Hamas abgelöst werden, 
um die Organisation einzubinden und im Nahen Osten durch Kooperationen 
Fortschritte zu erzielen. Es gelte, "auch unbequeme Akteure in 
Lösungsansätze" zu integrieren.[2]
Gespräche
Die Forderung, mit der Hamas zu verhandeln, wird im 
außenpolitischen Establishment Berlins in jüngster Zeit immer lauter 
vertreten. Auseinandersetzungen darum eskalierten kürzlich aus Anlass 
einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll, die Mitte Juni unter 
dem Motto "Mit Hamas und Fatah reden" stattfand. Als Redner angekündigt 
waren unter anderem Muriel Asseburg, deren Vortrag die Grundlage des 
zitierten SWP-Arbeitspapiers bildet, aber auch Bundestagsabgeordnete 
mehrerer Parteien und ein Vertreter der Hamas. Nach heftigen 
öffentlichen Auseinandersetzungen um den Auftritt des Hamas-Funktionärs 
schuf die Bundesregierung Fakten - und verweigerte ihm die Einreise. 
Unumstritten war die Entscheidung nicht. Harald Leibrecht, 
entwicklungspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, plädierte 
anlässlich der Tagung in Bad Boll für Gespräche mit der Hamas; Rainer 
Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, 
wurde mit der Aussage zitiert, die Isolierung der Hamas werde ohnehin 
nicht mehr konsequent befolgt. In der jüngsten Zeit hätten "zahlreiche 
Wissenschaftler, aber auch Vertreter politischer Parteien" an Gesprächen
 mit der Organisation teilgenommen, bestätigt die SWP.[3]
Auf Europa ausgerichtet
Wie Berlin davon profitieren kann, zeigen Vorschläge, 
die die SWP für den Fall einer Aufhebung der weithin als 
völkerrechtswidrig kritisierten Gaza-Blockade unterbreitet. Demnach 
könne die EU, die bereits die Wiederaufnahme ihres Monitorings am 
Grenzübergang Rafah [4] angeboten hat, die Kontrollfunktion an den 
Warenübergängen zwischen Israel und dem Gaza-Streifen übernehmen.[5] 
Auch solle der Wiederaufbau des Flughafens in Gaza in Angriff genommen 
werden; dies sei ganz besonders "für die auf Europa ausgerichtete 
Exportwirtschaft Gazas" von Bedeutung. Schließlich sei auch der Seehafen
 von Gaza auszubauen, "damit Güterschiffe ihn überhaupt anfahren 
können". "Mittelfristig" werde die EU dann möglicherweise "eine 
Kontrollfunktion auch bei Personen und Warenlieferungen übernehmen, die 
per Schiff oder Flugzeug im Gaza-Streifen ankommen". Die Pläne zur 
Übernahme hoheitlicher Funktionen in Gaza lassen den Einflussgewinn 
erkennen, den Berlin und Brüssel im Gaza-Streifen in den Blick nehmen.
Fraktionierungen
Dabei sind in Berlin in Sachen Gaza ähnliche 
Fraktionierungen zu erkennen wie im Streit mit Iran. Während 
transatlantisch orientierte Kreise weiter auf eine Eskalation der 
Spannungen setzen und diejenigen Kräfte im Nahen und Mittleren Osten, 
die wie die Hamas oder Iran eine eigenständige Politik anstreben, mit 
Gewalt bedrohen, plädieren insbesondere an Geschäften im Mittleren Osten
 interessierte Wirtschaftskreise für eine Strategie der Einbindung à la 
"Wandel durch Annäherung". Politische Exponenten dieser Strategie finden
 sich in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), aber ebenso in der
 FDP, deren die deutsche Außenwirtschaft fördernder Entwicklungsminister
 sich kürzlich mit einem öffentlichkeitswirksamen Gaza-Auftritt 
hervortat. Beide Strömungen zielen mit unterschiedlicher Methodik 
letztlich auf ein ähnliches Ergebnis - darauf, dass der Westen in den 
mittelöstlichen Ressourcengebieten entweder mit einer Strategie der 
Spannung oder mit Hilfe einer Einbindungspraxis die Kontrolle behält.[6]
[1] Bundesinnenminister Dr. de Maizière verbietet 
Hamas-Spendenverein; www.bmi.bund.de 12.07.2010
[2], [3] Muriel Asseburg: Mit wem soll der Dialog im israelisch-palästinensischen Konflikt stattfinden? SWP FG6-AP Nr. 1/2010, Juni 2010. S. auch Gleichgewicht der Schwäche (II)
[4] s. dazu Eigenständige Präsenz
[5] Muriel Asseburg: Die Gaza-Blockade beenden - aber wie? SWP-Aktuell 51, Juni 2010
[6] s. auch Hegemonialkampf am Golf
[2], [3] Muriel Asseburg: Mit wem soll der Dialog im israelisch-palästinensischen Konflikt stattfinden? SWP FG6-AP Nr. 1/2010, Juni 2010. S. auch Gleichgewicht der Schwäche (II)
[4] s. dazu Eigenständige Präsenz
[5] Muriel Asseburg: Die Gaza-Blockade beenden - aber wie? SWP-Aktuell 51, Juni 2010
[6] s. auch Hegemonialkampf am Golf
