Dan Thy Nguyen hat aus Interviews ein Theaterstück über das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren gemacht. Ein Gespräch über ein Opfer-Schema, das nicht greift, und die Lehren aus den Angriffen.
Wenn es um das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen geht, stehen oft die Täter im Vordergrund. Sie haben für Ihr Theaterstück mit einigen der Menschen gesprochen, die damals angegriffen wurden. Hat das Ihren Blick auf die Ereignisse verändert?
 
Absolut. Die Geschichte müsste ein Stück weit umgeschrieben werden. Es 
gibt ein Detail, das ich immer im Kopf habe: Ein Überlebender hat mir 
erzählt, dass er nicht so sehr davor Angst hatte, an diesen Tagen zu 
sterben, sondern davor, einen der jungen Angreifer töten zu müssen, um 
sich selbst zu verteidigen. Das ist eine ganz andere Perspektive: Das 
klassische Opfer-Schema passt hier gar nicht. Es liegt vielleicht auch 
daran, dass die Menschen im Haus sich so gut organisiert haben, dass es 
keine Toten gab.
Ein Vietnamese schilderte Ihnen auch, dass er noch einmal ins Sonnenblumenhaus zurück ist, wo er selbst gar nicht wohnte, um anderen zu helfen – trotz der Lebensgefahr.
 
Ja, der Mut der Überlebenden unter Einsatz des eigenen Lebens wird in 
der Geschichte von Rostock-Lichtenhagen oft ausgeblendet. Teilweise 
waren frühere Vietnam-Krieg-Soldaten dabei, die auf ihre Erfahrungen 
zurückgriffen, als sie das Haus über die oberen Stockwerke evakuierten. 
Im Gedenken sind die Vietnamesinnen und Vietnamesen aber oft eher 
Randfiguren – ganz zu schweigen von den Roma und den Geflüchteten aus 
dem ehemaligen Jugoslawien. Das ist eigentlich eine weiße Gedenkkultur, 
aus einer fast ausschließlich biodeutschen Perspektive.
Wie gehen die Menschen, mit denen Sie gesprochen haben, mit dem Jahrestag um?
 
Die meisten sind enttäuscht. Eine Verarbeitung gab es fast nicht, sowohl
 juristisch als historisch – auch keine Entschädigung. Es ist fast schon
 ein leeres Gedenken, das nur an der Oberfläche kratzt, eine 
Eventisierung. Viele sagen auch, dass sie damit abschließen wollen – ob 
das klappt, ist eine andere Frage. Die Kombination aus Traumata aus dem 
Vietnam-Krieg, aus Erlebnissen als DDR-Vertragsarbeiter und dann diesen 
Ereignissen 1992 macht es vielen schwer, ein ganz normales Leben zu 
führen.
Wenn man das überhaupt verallgemeinern kann, welche Rolle spielt Rostock-Lichtenhagen für die vietnamesische Community in Deutschland?
 
Die eine Community gibt es so gar nicht. Ich komme aus der 
Boat-People-Community, die sich von der ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter 
sehr unterscheidet. Für viele aus der Boat-People-Community ist 
Rostock-Lichtenhagen kein wirklicher Begriff, auch da gibt es kein 
richtiges Gedenken. Aber Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda haben 
eine massive Angst vor Ostdeutschland ausgelöst. Dazu kam noch, dass 
viele dort die Kommunisten lokalisierten, vor denen sie ja geflohen 
waren. Von klein auf kenne ich die Warnungen vor dem Osten.
Die gibt es bis heute?
 
Ja, eindeutig.
Und wie ist es mit der Erinnerungskultur bei Menschen mit vietnamesischen Wurzeln in Ostdeutschland?
 
Die Vertragsarbeiter-Community geht meiner Meinung nach offener damit 
um. Die Menschen hatten aber in den 90er ganz andere Probleme, als sich 
um eine Gedenkkultur zu kümmern. Es gab zwar schon einige Akteurinnen 
und Akteure, aber erst ab dem 20. Jahrestag haben sich zusätzlich 
Menschen stark gemacht, bestimmte Dinge aufzuarbeiten. Insbesondere aus 
der zweiten Generation.
Sie sind in einem kleinen Dorf in NRW aufgewachsen und waren ein Kind, als in Rostock-Lichtenhagen die Molotow-Cocktails flogen. Welche Erfahrungen haben Sie als Sohn vietnamesischer Geflüchteter in Westdeutschland gemacht?
 
Es gab Angriffe auf unser Haus, Steinwürfe, Hunde-Exkremente wurden an 
die Wand geschmiert. Ich bin mehrmals angespuckt worden. Nachts wurde 
gehupt, „Ausländer raus!“ gerufen oder „Scheiß Japsen“. Das hat meine 
Kindheit und Jugend geprägt. Es gibt das Klischee, dass die 
Boat-People-Community keinen Rassismus erfahren hat. Das ist natürlich 
totaler Blödsinn. Das Absurde ist: Auch für Vietnamesen im Westen war 
Rostock-Lichtenhagen damals eine Gelegenheit, um die eigenen Probleme 
auf den Osten zu projizieren und sich nicht damit auseinandersetzen zu 
müssen.
Sie haben einmal gesagt, es führt eine Linie von Rostock-Lichtenhagen nach Tröglitz, Freital oder Bautzen. Wo sehen Sie die Parallelen zur Gegenwart?
 
Das ist natürlich polemisch gemeint. Die Angriffe auf Unterkünfte der 
letzten Jahre sind ja noch so nah dran, dass sie historisch noch nicht 
aufzuarbeiten sind. Und Rostock-Lichtenhagen selbst ist historisch, 
juristisch, politisch bei weitem noch nicht vollständig aufgearbeitet.
Hat das erschwert, daraus Konsequenzen zu ziehen?
 
Ja. Ich habe den Eindruck, dass es im Bewusstsein unserer Gesellschaft 
in den 90ern nur Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln und Solingen 
gegeben hat, dass diese Ereignisse wie singuläre rassistische Events 
gesehen werden. Sie werden nicht in den größeren politischen Kontext zu 
jener Zeit gesetzt. Dadurch werden auch die ,kleinen Ereignisse’ auf den
 Dörfern ausgeblendet. In dem Dokumentarfilm „The truth lies in Rostock“
 wird davon gesprochen, dass es fast täglich irgendwo einen Anschlag 
gab.
Was heißt das für die Gegenwart?
 
Ein Beispiel: Hoyerswerda liegt im gleichen Landkreis wie Bautzen. Da 
muss man sich doch als Gesellschaft fragen, warum passieren diese Dinge 
in ähnlichen Orten. Darauf brauchen wir zivilgesellschaftlich, 
wissenschaftlich und politisch eine Antwort. Und dafür müssen wir die 
Ereignisse in einem größeren Kontext sehen.
Interview: Martín Steinhagen
