Der Anwalt der Familie Yozgat spricht im Interview über mauernde Behörden, enttäuschte Erwartungen und Fragen an den hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier.
Herr Kienzle, vor rund zweieinhalb Jahren hat der hessische NSU-Untersuchungsausschuss erstmals öffentlich getagt. Damals haben Sie gesagt, Familie Yozgat erwarte von den Behörden Transparenz. Wurde diese Forderung erfüllt?
 
Bis heute gibt es an den neuralgischen Punkten keine Transparenz. Es 
gibt nach wie vor eine Sperrerklärung des damaligen Innenministers in 
Hessen, Volker Bouffier, die weitgehend begründungslos ist. Es gibt nach
 wie vor bestimmte Akten, die nicht offengelegt werden. Es gibt nach wie
 vor angebliche Zufallsfunde, die bei Vernehmungen hessischer Zeugen 
etwa im Bundestagsuntersuchungsausschuss bekannt werden. Es gibt nach 
wie vor ein taktisches Verhältnis zu Transparenz der Behörden und der 
Landesregierung. Sie wird nur dort hergestellt, wo sie einem selbst 
nicht schadet.
Der heutige Ministerpräsident Bouffier musste bereits 2012 im Bundestag als Zeuge auftreten – seit dem ist viel Neues bekanntgeworden. Welche Erwartungen haben Ihre Mandanten an seine Aussage in Wiesbaden?
 
Das kommt darauf an, was man mit ‚Erwartungen‘ meint. Realistischerweise
 erwarten unsere Mandaten von seiner Aussage schlichtweg gar nichts 
mehr. Dafür waren die letzten elf Jahre zu frustrierend, zu sehr davon 
geprägt, dass man von staatlicher Seite immer nur minimale Aufklärung 
erwarten konnte. Wenn man es etwas abstrakter sieht, wäre die Erwartung,
 dass das Land Hessen jetzt doch noch einen Schritt in Richtung 
tatsächlicher Transparenz unternimmt und die damaligen Vorgänge 
offenlegt, insbesondere soweit sie das Landesamt für Verfassungsschutz 
betreffen, und dass man sich auf Grundlage der gesamten Aktenbestände 
ein vollständiges Bild davon machen kann, was damals in Hessen passiert 
ist.
Dafür hat sich Bouffier aus Ihrer Sicht bisher nicht eingesetzt?
 
Ich will an eine Bemerkung erinnern, zu der Herr Bouffier sich bei einer
 Pressekonferenz im Februar 2015 hat hinreißen lassen. Damals hatten wir
 im NSU-Prozess beantragt, überwachte Telefonate von 
Verfassungsschutz-Beamten einzuführen. Es ging um die Frage, ob das 
Landesamt vorab Hinweise auf den Mord in Kassel hatte. Da hat Herr 
Bouffier auf die Nachfrage eines Journalisten gesagt, er habe nicht 
behauptet, dass im Landesamt vorab keine Kenntnisse vorhanden gewesen 
seien, das müsse man jetzt aufklären. Auf diese Aufklärung warten wir 
heute noch.
Besonders umstritten ist die Sperrerklärung, die der damalige Innenminister 2006 unterschrieben hat. Damit wurde der Polizei untersagt, die V-Leute des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme direkt zu vernehmen. Sie sagen, diese habe bis heute Bestand. Warum?
 
Das ist eine spannende Frage, die ich auch gerne beantworten hätte. Es 
ist völlig unklar, inwieweit die Offenlegung von Sachverhalten, die 
inzwischen mehr als zehn Jahre in der Vergangenheit liegen, die 
Sicherheit Deutschlands und Hessens soll gefährden können. Diese 
Sperrerklärung behindert nach wie vor die Aufklärung, beispielsweise 
wenn es um weitere Quellen von Herrn Temme geht, möglicherweise auch 
weitere aus der Neonazi-Szene.
Der frühere V-Mann Benjamin Gärtner konnte aber befragt werden – von der Polizei, vor Gericht und vor dem Untersuchungsausschuss im Landtag.
 
Man hat da einen Modus operandi gefunden, mit dem der größte Druck 
abgelassen werden konnte. Trotzdem ist diese Sperrerklärung nach wie vor
 der Grund dafür, dass sehr gezielt gesteuert werden kann, in welchem 
Bereich man ein kleines Stück nachgibt und etwas offenlegt und wo nicht.
Auch Andreas Temme steht immer wieder im Fokus. Das Gericht in München hat ihn als glaubwürdig gewertet, die Linke in Hessen ihn wegen Falschaussage angezeigt. Wie bewerten Sie seine Aussagen?
 
Mit dem Beschluss des Gerichts sind wir sehr unzufrieden. Wir hatten 
einen ganz anderen Eindruck von seinen Aussagen. Für uns waren sie 
alles, nur nicht glaubhaft. Wer diesen Zeugen beim Lavieren erlebt hat, 
samt seiner Erinnerungslücken und Widersprüche, kann ihn nicht für 
überzeugend halten. Ich gehe nach wie vor davon aus, dass wir es mit 
einer taktischen Aussage zu tun haben. Sie ist durch die vielen 
Wiederholungen nicht ein Stück glaubhafter geworden.
Haben Sie noch Hoffnung auf Aufklärung, wenn der Prozess endet und die Ausschüsse ihre Arbeit beenden?
 
So richtig optimistisch kann ich nicht sein. Ich würde mir sehr 
wünschen, dass die Aufklärung weitergeht. Ich sehe aber das sowohl in 
Justiz, als auch in Politik und letztlich auch bei den Medien eine 
gewisse Ermüdung. Mittlerweile geht es oft um komplizierte Details. 
Trotzdem habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass man in kleinen 
Schritten immer weiterkommen wird. Ich erinnere an das 
Oktoberfest-Attentat. Über 30 Jahre danach sind neue Tatsachen 
aufgetaucht, die dem Generalbundesanwalt eine Wiederaufnahme der 
Ermittlungen aufgezwängt haben.
Diesen Wunsch teilen Ihre Mandanten sicherlich. Haben sie darüber hinaus Forderungen?
 
Herr Yozgat fordert nach wie vor, die Holländische Straße in Kassel nach
 seinem Sohn Halit zu benennen. Ansonsten sind die Yozgats seit Beginn 
des Verfahrens sehr, sehr zurückhaltend mit Forderungen an den Staat. 
Sie wollen kein Geld für all das, was sie erlitten haben. Aber die 
Position der Familie ist: Wir haben ein Recht auf Aufklärung.
Interview: Martín Steinhagen
