Die antisemitischen Übergriffe an einer Friedenauer Schule sind kein Einzelfall. 2016 wurden allein in Berlin 470 judenfeindliche Vorfälle gezählt.
von Hannes Soltau
„Du darfst in der Öffentlichkeit niemals zeigen, dass du Jude bist.“ Diese letzten Worte seines Großvaters hat Levi Salomon tief verinnerlicht. Der Geschäftsführer des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) zeigt sich nach den antisemitischen Vorfällen an einer Friedenauer Gemeinschaftsschule beunruhigt. Denn die Warnung seines Großvaters ist heute für viele Juden in Berlin wieder bittere Realität.
Seit mehr als 25 Jahren ist Salomon Teil der Jüdischen Gemeinde in Berlin. Als seine Familie 1991 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kam, sei ein zentraler Gedanke vorherrschend gewesen: „Wir wollen nie wieder im Ghetto leben“. Man versuchte sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren und schnell Deutsch zu lernen: „Die Eltern entschieden sich bewusst dagegen, ihre Kinder auf eine jüdische Schule zu schicken.“ Damals glaubte man, dass der Antisemitismus in Deutschland zunehmend zu einer Randerscheinung werde. Aus heutiger Sicht sei das aber ein Irrglaube.
Zulauf für jüdische Schulen
Mittlerweile gibt es wieder Platzmangel an den jüdischen Schulen in Berlin. Der Grund: Eltern haben Angst um ihre Kinder. Und das nicht erst seit dem jüngsten Vorfall in Friedenau, wo ein jüdischer Schüler antisemitisch beleidigt wurde. Seine Eltern nahmen den 14-Jährigen daraufhin von der Schule.
Kein Einzelfall. Immer wieder berichten Familien gegenüber Salomon von antisemitischen Vorfälle an Berliner Bildungseinrichtungen. Erst vor zwei Jahren gab es an einem Gymnasium in Wilmersdorf ein vergleichbares Ereignis. Nach monatelangen antisemitischen Anfeindungen musste eine Schülerin stationär psychologisch behandelt werden. Vonseiten der Schule habe es wenig Verständnis gegeben. Stattdessen wurden Zeugnisse nicht ausgehändigt, da die Schülerin dem Unterricht wegen des Mobbings oft ferngeblieben war.
Die Amadeu Antonio Stiftung begleitete damals den Fall. Auch hier ist man derzeit alarmiert. Miki Hermer betreut für die Organisation Projekte gegen Antisemitismus. Die Angst in jüdischen Gemeinden nehme seit Jahren zu, sagt sie. Vor allem die Beschneidungsdebatte 2012 und die Militäroperation der israelische Streitkräfte gegen die Hamas 2014 hätten zu einem Anstieg antisemitischer Vorfälle in Berlin geführt.
Judenfeindlichkeit in der Migrationsgesellschaft
Neben dem originären Antisemitismus, der in der deutschen Gesellschaft fortwährend bestehe, rückten dabei zunehmend antijüdische Ressentiments aus der Migrationsgesellschaft in den Mittelpunkt. In der Folge werden auch jüdische Schüler häufig für die Politik Israels verantwortlich gemacht gezogen oder zur Zielscheibe von Verschwörungstheorien. Auch im Friedenauer Fall ging die Aggression von türkisch- und arabischstämmigen Mitschülern aus. „Du Jude“ sei mittlerweile eine der häufigsten Beleidigungen auf Berliner Schulhöfen, sagt Hermer.
Seit 2015 erfasst die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) antisemitische Vorfälle in Berlin. Über ein Meldesystem im Internet können Betroffene Fälle anonym melden. Allein im Jahr 2016 zählte der Leiter Benjamin Steinitz 470 Vorfälle im Stadtgebiet. In den vergangenen zwei Jahren sind RIAS 27 Vorfälle in Bildungseinrichtungen bekannt geworden. „Die Dunkelziffer ist aber um ein Vielfaches höher“, sagt Steinitz. Viele Betroffene seien eingeschüchtert. Sie meldeten zwar die Fälle, bitten jedoch darum, dass diese nicht öffentlich gemacht werden.
Lehrer nicht sensibilisiert
In erster Linie handele es sich dabei zwar um verbale Attacken, „aber in vielen Fällen kommt es zu direkten Vernichtungsdrohungen.“ Ein besonders heftiger Vorfall ereignete sich Steinitz zufolge in einer Spandauer Kita. Dort sagte ein Junge im morgendlichen Sitzkreis: „Meine Mutter hat gesagt, dass Hitler nicht alle Juden umgebracht hat. Gott hilft uns, dass alle Juden umgebracht werden.“ Mit dem Vorfall konfrontiert, spielte eine Erzieherin der Einrichtung die Bedeutung der Bemerkung des Kindes herunter.
Dieser Fall zeigt auch, dass nicht nur die Jugendlichen selbst, sondern häufig auch die Lehrer und Pädagogen nicht ausreichend sensibilisiert sind, mit judenfeindlichen Ressentiments umzugehen. Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) setzt sich seit 2003 mit Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft auseinander. Sie bietet sowohl Seminare für Schulklassen, als auch Fortbildungen für Lehrer an.
Von den tausenden Schulklassen in Berlin erreiche man jedoch nur einen Bruchteil, sagt Mitarbeiter Aycan Demirel. Zwar habe die Bundesregierung die Mittel für Demokratieförderung im Jugendbereich zuletzt deutlich erhöht. Jedoch hätten die Bildungsträger in der Antisemitismusprävention derzeit keine Planungssicherheit. Diese sei aber für eine qualitative und kontinuierliche Arbeit gegen die antisemitische Stimmung an Schulen unabdingbar.