Londoner Forensiker belasten Ex-Verfassungsschützer - Vor elf Jahren wurde Halit Yozgat in seinem Kasseler Internet-Café erschossen - mutmaßlich von der Terrorgruppe NSU. Ein Verfassungsschützer war am Tatort, will aber nichts mitbekommen haben. Londoner Forensiker bezweifeln das.
Zum elften Jahrestag des Mordes an dem damals 21 Jahre alten Kasseler Internet-Betreiber Halit Yozgat wollen Londoner Forensiker neue Antworten geben auf die Frage, die Angehörige des Opfers, Journalisten und Politiker nach wie vor umtreibt:
Ist es möglich, dass der damalige hessische Verfassungsschützer Andreas Temme nichts von dem Mord mitbekommen hat, so wie er es behauptet - zuletzt im Münchener NSU-Prozess?
Temme war am 6. April 2006 Kunde in Yozgats Internet-Café, loggte sich um 17.01 Uhr aus seinem Computer aus und legte auf dem Weg zum Ausgang Geld auf den Verkaufstresen des Cafés. Die zwei tödlichen Schüsse auf Yozgat grenzten die Ermittler auf die Zeit gegen 17 Uhr ein, der tote Unternehmer lag ausgestreckt auf dem Rücken hinter dem Tresen (was exakt wann geschah, erfahren Sie hier).
Temme hätte toten Yozgat sehen müssen
Sollte Yozgat schon tot hinter dem Tresen gelegen haben, als Temme das Internet-Café verließ, muss er nach Untersuchungen des "Forensic Architecture Institute London" etwas gesehen und gehört haben.
Die Forschungsgruppe versteht sich als Recherche-Organisation im Dienste der Menschenrechte und untersucht Verbrechen, die ihrer Ansicht nach nich ausreichend aufgeklärt wurden. In diesem Fall ist ihr Auftraggeber das "Tribunal NSU-Komplex auflösen", nach eigenen Angaben ein Zusammenschluss verschiedener Anti-Rassismus-Initiativen.
Kasseler Internet-Café in Berlin nachgebaut
Die Londoner Forensiker rekonstruierten mit Unterstützung eines Waffen-Analysten, eines Akustikers und eines Spezialisten für Strömungsdynamik den Fall, dass Temme während des Mordes an Yozgat im hinteren Raum des Internet-Cafés an einem Computer saß.
Dazu bauten sie im März in Berlin ein 1:1-Modell des Kasseler Internet-Cafés nach und nutzten dreidimensionale Computer-Simulationen. Sie sichteten alle verfügbaren Aufzeichnungen, Ermittlungsergebnisse, Tatort-Fotos, Computer- und Telefonprotokolle, Aussagen von Temme und von Zeugen sowie das Video einer Tatort-Begehung des damaligen Verfassungsschützers.
Kopfbewegungen gemessen, Schusslautstärke ermittelt
Die ersten Ergebnisse, die die Forschungsgruppe Ende vergangener Woche in einem Vorabbericht veröffentlichte:
- Temme hätte den toten Halit Yozgat sehen müssen, als er das Geld auf den Tresen des Internet-Cafés legte. Die Forscher hatten mithilfe analoger Messungen und einer Software zur Ermittlung von Körperbewegungen Temmes Bewegungen überprüft, vor allem seines Kopfes.
- Temme hätte die Schüsse an seinem Platz im hinteren Raum des Internet-Cafés hören müssen. Um zu dieser Erkenntnis zu kommen, hatten die Forensiker die Lautstärke der Schüsse aus der bei dem Mord verwendeten Pistole mit Schalldämpfer (Ceska CZ 83) gemessen und sie im Café-Nachbau abgespielt sowie im Computer simuliert. Laut ihren Erkenntnissen wären die Schüsse an Temmes Platz noch mit einer Lautstärke von 86 Dezibel zu hören gewesen bei einer Umgebungslautstärke von 40 Dezibel.
Zudem prüfen die Forscher mit Hilfe eines Spezialisten für Strömungsdynamik noch, ob Temme die Schüsse nicht auch hätte riechen müssen. Diese Ergebnisse stehen noch aus.
Hoffnung auf neue Ermittlungsansätze
Auftraggeber und Forscher erhoffen sich neue Ermittlungsansätze zur Rolle von Andreas Temme und des Verfassungsschutzes im NSU-Mordfall Yozgat. "Die Ergebnisse sind nicht nur spektakulär, sondern stellen die bisherige Darstellung von Andreas Temme stark in Frage", schreiben sie. Es sei neues Beweismaterial erzeugt worden, das auch vor Gericht bestehen kann.
Am Donnerstag, wenn am elften Jahrestag wieder des Mordes an Halit Yozgat gedacht wird, wollen sie die ausführlichen Ergebnisse in Kassel der Öffentlichkeit vorstellen.