Quelle: 
    
Erstveröffentlicht: 
    
                    17.03.2017        
        Dr. Matthias Quent, Leiter des Institutes für Demokratie und Zivilgesellschaft, sieht noch Potenzial beim Fahndungsdruck auf führende Köpfe der rechtsextremen Szene.
Jena. Das Institut für Demokratie- und Zivilgesellschaft arbeitet seit sechs Monaten in Jena. In der TLZ spricht Leiter Dr. Matthias Quent über die Gefährlichkeit der Thüringer Neonaziszene aber auch über linke Gewalt.
Dreieinhalb Jahre wird im NSU-Prozess verhandelt. Ist jetzt alles auf dem Tisch?
 Nein.
 Aber die Aufgabe eines Gerichtsprozesses ist ja primär, die Schuld des 
Angeklagten zu beweisen. Das ist aus meiner Wahrnehmung heraus ziemlich 
sattelfest geschehen. Beate Zschäpe ist überführt und wird verurteilt 
werden. Ich denke, das trifft auch für die anderen Angeklagten zu. Aber 
es ist längst nicht alles aufgeklärt, was mit dem NSU-Komplex zu tun 
hat.
 Was meinen Sie?
 Ich
 denke, die individuelle Schuld der Angeklagten ist bewiesen. Aber das 
Umfeld ist noch nicht abschließend beleuchtet. Es gibt schließlich 
Ermittlungsverfahren gegen neun weitere Tatverdächtige. Der NSU-Komplex 
ist nicht aufgelöst.
 Wo muss in Thüringen noch konkret aufgeklärt werden?
 Hier
 wurde schon sehr viel aufgedeckt. Aber was uns immer noch beschäftigt, 
das sind die Netzwerke dahinter. Es sind dieselben Menschen, die den 
Thüringer Heimatschutz aufgebaut haben. Es sind dieselben Menschen, die 
jetzt beim Ballstädt-Prozess auf der Anklagebank sitzen oder im Umfeld 
Geld für die Prozesskosten beschaffen. Und es sind dieselben Menschen, 
die in Kirchheim Rechtsrockkonzerte organisieren. Das ist ein nicht nur rechtsextremes, sondern ein zum Teil kriminelles Milieu über die Musikszene. Wir wissen viel mehr ...
 ... aber?
 Hat
 sich wirklich richtig etwas getan hinsichtlich des Druckes, der auf 
diese Szene aufgebaut wird? Da besteht Handlungsbedarf. Man muss mit dem
 aus dem NSU erlernten Wissen auch umgehen. Dazu gehört beispielsweise 
die Verbindung in die Musikszene und das kriminelle Milieu. Aus der 
Forschungsperspektive kann man hier auch dazulernen.
 Was zum Beispiel?
 Ich
 habe immer mehr den Eindruck, dass man nicht mehr genau trennen kann 
zwischen organisierter Kriminalität und organisiertem Rechtsextremismus.
 In der rechtsextremen Szene sind fast alle gleichzeitig auch kriminell 
und gehen organisiert vor.
 Wie groß ist aus Ihrer Sicht die Gefahr eines zweiten NSU in Thüringen?
 Die
 Besonderheit am NSU ist traurigerweise nicht, dass Nazis Menschen 
ermorden, sich bewaffnen oder Gewalt anwenden. Seit 1990 wurden in Deutschland
 je nach Zählung zwischen 75 und 178 Menschen durch Rechtsextreme 
ermordet. Das Besondere am NSU war die lange Zeit, die er im Untergrund 
lebte, dort konspirativ agierte.
 Bis er nicht entdeckt wurde, sondern sich selbst enttarnte.
 Weil
 man gar nicht wegen der rassistischen Morde gegen ihn ermittelt hat. 
Geschichte wiederholt sich nie eins zu eins. Aber es gibt den 
Alltagsterror in Thüringen und es 
gibt die Übergriffe, die zuletzt die Opferberatung Ezra aufgezeigt hat. 
Die Kriminalstatistik bestätigt diesen Aufwärtstrend im negativen Sinne.
 Der Unterschied zum NSU ist im Wesentlichen, dass es bisher keine Toten
 gab und dass die Täter nicht im klassischen Sinne im Untergrund leben.
 Aber der Terror ist geblieben.
 Ja. Bei Terror geht es darum, Angst und Schrecken zu verbreiten. In Thüringen
 gibt es eine Gewalt, die für die Betroffenen terroristisches Ausmaß 
hat. Das passiert unter anderem gegen Geflüchtete und gegen Migranten im
 Alltag in Thüringen.
 Aber einzelne Kleingruppen, die sich radikalisiert haben, gibt es bisher nicht.
 Sie sind zumindest nicht bekannt. Aber die rechtsextreme Szene in Thüringen
 ist höchst radikalisiert und gewaltaffin. Es kann jederzeit passieren, 
dass sich ein kleiner Teil oder ein einzelner Täter in den Untergrund 
absetzt und dort weitere Taten begangen werden.
 Also besteht jederzeit auch die Gefahr, dass Menschen durch rechten Terror ums Leben kommen.
 In der Tat. Diese Gefahr ist alltäglich, auch in Thüringen.
 Das sagt auch das Bundeskriminalamt. Die Gefahr, dass sich rechte 
Terrorzellen gründen, ist so groß wie nie zuvor. Das ist auch deshalb 
so, weil das Rekrutierungsspektrum im Zuge der Migrationskrise gewachsen
 ist.
Welche Aufgabe kommt da den 
Verfassungsschutzbehörden, deren treffliches Versagen aus der NSU-Zeit 
ja erwiesen ist, und den Sicherheitsbehörden zu, bei denen Sie fehlenden
 Ermittlungsdruck kritisiert haben?
 Es sind 
zwei unterschiedliche Ebenen. Die Polizeien haben im NSU-Komplex viel 
gewusst und in den 1990er-Jahren eine sehr gute Arbeit geleistet, 
konnten den NSU aber dennoch nicht verhindern. Auch deshalb, weil der 
Verfassungsschutz dazwischengefunkt hat. Er war also eher ein Teil des 
Problems als ein Teil der Lösung. Insofern gebe ich mehr auf die 
polizeiliche Kriminalprävention. Die Polizei ist in der Regel vor Ort, 
die Beamten kennen ihre Pappenheimer und die rechtsextreme Klientel. 
Wichtig ist eine richtige Deutung. Da habe ich große Zweifel.
 Was ist die zweite Ebene?
 Das
 ist die Normalisierung rechtsextremer Alltagswelten. Mobit (Anm. d. 
Red.: Mobile Beratung für Demokratie und gegen Rechtsextremismus) weist 
berechtigterweise immer wieder auf die zahlreichen Rechtsrockkonzerte 
hin. In Nordrhein-Westfalen und auch in Brandenburg sehen wir zum Beispiel, dass der Ermittlungsdruck viel höher ist gegen Personen, die diese organisieren oder besuchen.
 In Thüringen wird der Spielraum aus Ihrer Sicht nicht ausgenutzt?
 Das
 sind Möglichkeiten, wie konsequente Gefährderansprachen oder 
Personalienkontrollen, die hier noch nicht stattfinden. Auch die 
Ordnungsämter nutzen nicht die ihnen zur Verfügung stehenden 
Handlungsspielräume.
 Die Ordnungsämter sind ob ihrer Größe oft überfordert mit derlei Strukturen. 
 Es
 gibt genügend Angebote, beispielsweise von Mobit, um Mitarbeiter von 
Ordnungsämtern zu schulen. Wenn das dann aber nicht umgesetzt und 
angenommen wird, dann ist man mit der reinen Weiterbildung schnell am 
Ende. Die Möglichkeiten zur Weiterbildung gibt es und das ist ein 
Unterschied zu den 1990er-Jahren, in denen der NSU entstand. Die 
Zivilgesellschaft in Thüringen ist
 viel wacher, besser vernetzt und es gibt eine fachliche Expertise. Da 
hat schon die letzte Landesregierung von CDU und SPD in Thüringen enorme Aufbauhilfe geleistet mit dem Landesprogramm; die jetzige führt dies weiter.
 Es wird nicht angenommen.
 Da
 gibt es regionale Unterschiede. Das hängt oft auch an Einzelpersonen. 
Aus meiner Sicht ist dieses gesellschaftliche Umfeld, das dazu führen 
kann, dass sich Gewalttäter als legitimiert erfahren, immer noch zu 
groß. Das hängt auch damit zusammen, dass die Strafvollziehung zu lange 
dauert. Nehmen Sie den Gewaltausbruch von Saalfeld am 1. Mai 2015. Bis heute gibt es keinen Prozesstermin.
  In Erfurt
 demonstriert die AfD, im Rest des Landes ist Thügida auf der Straße. 
Gerade dort wird eine teils aggressive Ansprache gewählt. Wie befeuert 
das die Angst vor dem "Fremden"?
 In der 
Funktion würde ich zunächst deutlich zwischen der rechtsextremen Thügida
 und den Veranstaltungen der AfD unterscheiden. Die AfD-Kundgebungen 
greifen diverse Unzufriedenheiten in der Gesellschaft auf. Die 
Teilnehmer bei der AfD haben vollkommen unterschiedliche Motive, dorthin
 zu gehen. Sie stört, dass sie zu wenig Rente bekommen oder dass die 
Ticketpreise im Nahverkehr immer höher werden. Das sind nachvollziehbare
 Gründe, für die man eine Frustration empfinden kann. Die AfD ist dann 
der Protestanbieter, der der Unzufriedenheit eine Stimme gibt, sie 
politisiert und auf die Straße trägt. Damit aber wird eine diffuse 
Unzufriedenheit politisiert und die richtet sich dann gegen jene, die 
dafür nichts können – nämlich gegen Flüchtlinge. Und die sind nun 
wirklich nicht für die deutsche Sozialpolitik der letzten Jahre 
verantwortlich. Aber natürlich gibt es auch, wie der Thüringen-Monitor 
zeigt, viele rechtsextrem eingestellte Menschen in Thüringen, die sich in der völkischen Agenda von Höcke wiederfinden. Thügida dagegen ist durch und durch neonazistisch.
 Für die AfD steht Björn Höcke, den Sie stets kritisieren. Für die Teilnehmer an seinen Demos haben Sie Verständnis. Wie passt das zusammen?
 Die
 Unzufriedenheit in der Bevölkerung kann nachvollziehbare Gründe haben, 
aber auch solche, die nicht objektiv gedeckt sind. Die Angst vor 
Überfremdung ist eine subjektive Angst ohne realen Gegenstand – eine 
Projektion. Man muss anders damit umgehen als mit Sachfragen. Höcke
 aber kanalisiert eine allgemeine, diffuse Unzufriedenheit und lenkt 
diese auf Sündenböcke ab; auf Flüchtlinge, auf die sogenannte 
Lügenpresse, auf die Etablierten. Höcke
 blendet die Komplexität der Gesellschaft aus und setzt einen völkischen
 Nationalismus dagegen: Das kennen wir aus der Geschichte. Statt zum 
Beispiel soziale Ungleichheit infrage zu stellen, wird von ihm alles auf
 Sündenböcke, vor allem auf Migranten, übertragen.
 Ihr
 Institut gibt es seit sechs Monaten. Wie haben Sie versucht, mit der 
Kritik umzugehen, die es im Zuge der Gründung gegeben hat?
 Wir
 haben vor allem viel inhaltlich gearbeitet. Im Austausch mit 
wissenschaftlichen wie praktischen Akteuren haben wir ein 
Forschungskonzept erstellt und stellen im April unsere erste 
Schriftenreihe vor, in der wir transparent machen, wohin die Reise gehen
 soll. Unser zentraler Bezugspunkt bleibt Artikel 1 des Grundgesetzes: 
‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘.
 Ihre
 Kritiker sagen: wieder ein staatlich finanziertes Institut, das sich 
nur mit Rechtsextremisten befasst. Vor allem die AfD hat das kritisiert.
 Die
 Kritik aus der AfD lässt mich ziemlich kalt. Die Thüringer AfD ist in 
weiten Teilen eine extrem rechte bis rechtsextreme Partei. Dass deren 
Verantwortliche sich gegen Projekte einsetzen, die sich gegen 
Rechtsextremismus richten ... Wenn das so ist, dann machen wir unsere 
Arbeit doch gut. Die Thüringer AfD ist die Höcke-Partei, über die in Thüringen viel wohlwollender berichtet und gesprochen wird als im Rest der Republik.
 Bei
 einer von der rechtsextremen Thügida angemeldeten Demonstration im 
vergangenen August eskalierte die Gewalt von links. Wie gefährlich ist 
die linksextreme Szene?
 Bei der angesprochenen Demonstration in Jena kam es am Rande zu gewaltsamen Konfrontationen. Wir haben da eine Protestforschung durchgeführt: Die Wut über die Provokation von Thügida am Jahrestag der Reichspogromnacht und über
 die Abriegelung der Stadt war im ganzen Wohnviertel groß. Auf solche 
Eskalationen spekulieren die Inszenierungen der Thügida. Zurück zur 
Frage: Natürlich kann sich auch die linke antidemokratischer und 
verfassungsfeindlicher Mittel bedienen, zum Beispiel, wenn Gewalt 
angewendet wird. Dann ist es selbstverständlich die Aufgabe von Polizei,
 das aufzuklären und dem nachzugehen. Intentional muss man die Frage 
aber stellen: Geht es diesen Gewalttätern darum, die Demokratie 
abzuschaffen?
 Einige schreien zumindest ‚Deutschland verrecke‘.
 Provokationen
 und Aggressionen sind als Mittel für alle Gruppen zugänglich, die um 
Aufmerksamkeit werben. Die hinter dieser idiotischen Phrase stehende 
kosmopolitische Vorstellung des Bedeutungsverlustes von Nationalstaaten 
und von wachsender europäischer Integration ist ja nicht automatisch 
demokratiefeindlich, sondern längst Alltag in der Globalisierung. 
Bleiben wir mal bei dem Beispiel von Jena.
 Es handelt sich da um eine Konfrontation in einem 
Demonstrationsgeschehen. Das ist von der Struktur der Situation eine 
andere, als wenn Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe überfallen werden.
 Wo gibt es eine wirklich autonome Szene in Thüringen?
 In Jena, in Erfurt und vielleicht noch in Weimar
 gibt es autonome Szenen, die mit einem Millitanzhabitus spielen und 
damit auch Werbung machen für ihre Sache. Aber es ist mir nicht bekannt,
 dass es in Thüringen Akteure 
gibt, die sagen, so wie auf der rechtsextremen Seite, sie wollen die 
Demokratie, die Menschenrechte und das Grundgesetz abschaffen. Ich 
schließe das aber auch nicht aus – wir werden sehen, was unsere Daten 
sagen. Wir wissen zum Beispiel aus dem Thüringen-Monitor, dass auch 
Menschen, die sich selbst für links halten, menschen- und 
demokratiefeindliche Einstellungen haben. Ja, die Linke kann 
antidemokratische Methoden verwenden, sie verfolgt aber nicht in jeder 
Form auch antidemokratische Ziele. Das macht es im Einzelfall zum 
Beispiel für verletzte Polizeibeamte natürlich nicht besser. Ich habe 
vor einem Jahr geschrieben: Die Universalität der Menschenrechte und die
 Gleichwertigkeit von Menschen endet weder bei Polizeibeamten noch bei 
Rechtsextremen. Wir müssen lernen zu differenzieren.
