23.05.2010 / Wistedt: Der niedersächsische Landkreis Harburg kommt nicht zur Ruhe. Seit Monaten hinterlassen organisierte Neonazis in der Region eine Spur der Gewalt. Übergriffe sind an der Tagesordnung. So auch am vergangenen Wochenende, als rund 15 militante Neonazis eine Wohngemeinschaft in der Gemeinde Wistedt attackierten. Angesichts der derzeitigen Explosion an Gewaltakten wirkt das Verhalten staatlicher Stellen zunehmend befremdlich. Die nationalsozialistische Ideologie der TäterInnen und der von ihnen propagierte „Kampf um die Straße“ werden von den zuständigen Behörden konsequent in Abrede gestellt, geleugnet und verheimlicht. Geplante Gewalttaten von Neonazis werden zu „Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Jugendgruppen“ herunter gespielt, Opfer zu Täter_innen umgedeutet.
Die jüngste Attacke am vergangenen Sonntag im niedersächsischen Wistedt 
offenbarte abermals den derzeitigen Grad der Eskalation. In den frühen 
Morgenstunden verschafften sich bewaffnete Neonazis gewaltsam Zugang zu 
einem Wohnhaus. Ihr Ziel: politische Gegner_innen. Mit brachialer Gewalt
 schlugen die Angreifer auf Körper und Köpfe der Betroffenen ein. Die 
Bilanz des Überfalls: zwei Schwerverletzte, die im Krankenhaus 
notversorgt werden mussten. Zuvor hatten die Angreifer ihre Opfer mit 
Spaten traktiert. „Der ganze Flur war voller Blut“ berichteten 
Zeug_innen des Angriffs im Nachhinein.
Die Tat ereignete sich indes nicht ohne Vorankündigung. Das Gebäude war 
bereits in der Vergangenheit Ziel von Angriffen. Mehrfach wurden vor dem
 Anwesen neonazistische Hetzparolen und Drohungen gegröhlt, Scheiben 
wurden zertrümmert. Und auch der jüngste Vorfall kam nicht überraschend.
 Bereits am Vorabend der Tat versammelte sich in Wistedt eine Gruppe 
Neonazis, schmierte Parolen und kündigte die geplante Attacke lauthals 
an. Auch am darauf folgenden Tag neigte man nicht zu verborgenem 
Vorgehen. Wenige Stunden vor dem Angriff versammelten sich die 
beteiligten Neonazis, weithin sichtbar, vor dem Jugendzentrum in Tostedt
 und zogen von dort aus ins benachbarte Wistedt. 
Nur wenige Wochen zuvor ereignete sich eine ähnliche Tat im nahe 
gelegenen Hollenstedt, als vermummte Neonazis ins Innere einer Wohnung 
eindrangen. Die bewaffneten Angreifer agierten ebenso gewaltbereit wie 
kompromisslos, schlugen und traten gezielt auf die Köpfe der am Boden 
liegenden Personen ein und verletzten diese zum Teil schwer. Auch hier 
galt die Attacke politischen Gegner_innen. Politische Motive, die sich 
in einem anschließend veröffentlichten Polizeibericht nicht 
wiederfinden. Dass die namentlich bekannten Angreifer den 
neonazistischen Gruppen „Nationaler Widerstand Tostedt“ sowie „Gladiator
 Germania“ zuzurechnen sind - ein eindeutiges Indiz für eine politische 
Motivation - wurde schlicht ausgeklammert. Die Pressestelle der 
Polizeidirektion Tostedt degradierte den Vorfall stattdessen zu einem 
persönlichem Streit, der seit „geraumer Zeit“ existiere.
Die beiden Gruppierungen gehören zum militanten Netzwerk der „Nationalen
 Sozialisten Niedersachsen“ (NASO-N), einem organisatorischen 
Dachverband niedersächsischer Neonazis, welches der Koordinierung 
politischer Aktivitäten dient - und scheinbar auch der Planung von 
Gewalttaten, wie die jüngsten Vorfälle vor Augen führen. Neben den, im 
Landkreis Harburg operierenden, Neonazigruppen gehören 
Kameradschaftsgruppen aus Schneverdingen, Celle, Hannover, Lüneburg, 
Uelzen, Hildesheim und Schaumburg zur Organisationsstruktur.
Angesichts der Vorfälle werfen nicht nur die, in den polizeilichen 
Pressemitteilungen verbreiteten, Einschätzungen Fragen auf. Zweifelhaft 
ist auch der von den Behörden praktizierte Umgang mit den Betroffenen. 
Opferschutz scheint hier ein Fremdwort. Wie auch am vergangenen 
Wochenende in Wistedt. Einsatzkräfte der Polizei, welche den Ort des 
Geschehens erreichten, versuchten stattdessen ihrerseits das Gebäude zu 
stürmen. In dem Wohnhaus hatte sich zu diesem Zeitpunkt eine größere 
Gruppe Antifaschist_innen versammelt, welche den Betroffenen zu Hilfe 
geeilt war. Eine Begründung für das gewählte Vorgehen lieferten die 
eingesetzten Beamten hingegen nicht. Ein karges „Wir dürfen das!“ 
ersetzte den Durchsuchungsbeschluss und rechtfertigte die anschließende 
Umstellung des Hauses. „Es ging um die Feststellung der Personalien“, so
 ein Anwohner. Von den Angreifern fehlte zu diesem Zeitpunkt bereits 
jede Spur.
Zumindest bis zum nächsten Tag. Als Reaktion auf die Ereignisse des 
Vortages formierte sich am gestrigen Montag eine Spontandemonstration in
 Tostedt. In Sprechchören wurde auf die gewaltsamen Aktivitäten der 
Neonaziszene aufmerksam gemacht. Deren AnhängerInnen hatten sich zu 
diesem Zeitpunkt vor dem Ladengeschäft „Streetwear-Tostedt“, einem 
neonazistischen „Szeneladen“ im benachbarten Todtglüsing versammelt. 
Unter ihnen auch Mitglieder der sogenannten „Snevern Jungs“, einer als 
gewaltbereit geltenden Neonazigruppierung aus Schneverdingen. Als sich 
der antifaschistische Demonstrationszug dem Gebäude näherte, griff die 
Polizei ein und umstellte die Demonstration. Die angereisten Neonazis 
versuchten daraufhin die nun Eingeschlossenen zu attackieren. Es kam zu 
Festnahmen. Mehrere Mitglieder der „Gladiator Germania“ fanden sich 
anschließend in vorrübergehendem Polizeigewahrsam wieder. Unter ihnen 
auch Stefan Silar, seines Zeichens Betreiber des „Streetwear Tostedt“.
Die Verdrängung der Neonaziproblematik verschafft sich indes weiter 
Raum. Den Betroffenen in Wistedt wurde aufgrund der Attacke der 
Mietvertrag inzwischen fristlos gekündigt.

