Briten machen Schluss mit Big Brother

Erstveröffentlicht: 
22.05.2010

Der rabiateste Überwachungsstaat der westlichen Welt wagt die Kehrtwende. Großbritanniens neue Regierung will die Vorratsdatenspeicherung abschaffen, biometrische Personalausweise einmotten und Netzsperren aufheben.

 

Im November 2009 war es mal wieder so weit: In Großbritannien, so hieß es damals, stehe Hacker Gary McKinnon, der Rechner des US-Militärs geknackt hatte, unmittelbar vor seiner Auslieferung an die USA. Dort erwarten ihn ein Prozess - und bis zu 70 Jahre Haft. McKinnon wartet heute noch immer auf seine Überstellung, doch nun haben die Briten eine neue Regierung gewählt - und die mischt die Karten gerade völlig neu, nicht nur in Sachen McKinnon.

 

Denn der Hacker war auch im Wahlkampf des neuen Tory-Premiers David Cameron ein Thema. Innenministerin Theresa May erklärte, dass sie Zeit brauche, den Fall McKinnon noch einmal gründlich zu prüfen. Im Klartext: Die Auslieferung ist einmal mehr auf Eis gelegt. Ein symbolträchtiger Akt, der eine Kehrtwende in der britischen Politik einleitet bei allem, was irgendwie mit innerer Sicherheit, Internet, Überwachung der Bürger oder Zensur zu tun hat.

 

Die Pudel-Phase: Willfährig schnüffeln, Auslieferung on demand


Zum Politikum wurde McKinnon, der in den von ihm gehackten Nasa- und Pentagon-Netzen angeblich nur nach Ufos gesucht hatte, weil seine Auslieferung auf Basis des 2003 mit den USA geschlossenen Extradition Treaty geschehen sollte. Der Vertrag entstand unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 und regelt die Überstellung von Straftätern und Terrorverdächtigen ins jeweils andere Land, läuft in der Praxis aber vor allem in eine Richtung. Für die Gegner der Regelung ist der Vertrag Ausdruck des als Pudel-Verhältnis verspotteten Machtgefälles gegenüber den USA: Washington sei der Herr, die Briten der Hund. Die USA pfiffen, Großbritannien gehorche - nicht zuletzt in Sachen Überwachung und Restriktion der Kommunikationsinfrastrukturen.

 

Im August 2009 hatte sich David Cameron im Wahlkampf für McKinnon und gegen das als ungerecht empfundene Abschieberecht in die Bresche geworfen. Dieser Vertrag, kündigte Cameron damals an, müsse "dringend überarbeitet" werden.

 

Noch konkreter wurde Chris Huhne, damals innenpolitischer Sprecher der Liberaldemokraten und inzwischen Energieminister: "Auf keinen Fall würde eine US-Regierung einen ihrer Bürger auf ähnliche Weise im Regen stehen lassen. Die Regierung muss gewährleisten, dass das Auslieferungsabkommen zwischen den USA und Großbritannien widerrufen wird und dass der Ersatz für dieses Abkommen britische und amerikanische Bürger gleichberechtigt behandelt." Damit hatten sich die heutigen Koalitionspartner bereits im Sommer 2009 festgelegt. Wenn sie erst einmal an der Macht wären, würde McKinnons Abschiebung so einfach nicht laufen.

 

Opposition hieß auch, gegen den Überwachungsstaat zu sein


Doch das ist nicht das Einzige, was sich derzeit ändert: Im Gleichschritt mit den USA hatten die Labour-Regierungen den "War against Terrorism" auch im britischen Inland vorangetrieben. Labour setzte dabei jedoch auf zahlreiche Maßnahmen, die althergebrachte Werte der alten Bürgergesellschaft Großbritanniens in Frage stellten. Unter Tony Blairs und Gordon Browns Ägide wurde Großbritannien zu einem der bestüberwachten Staaten der Welt.

 

Das zieht sich durch alle möglichen Bereiche: Nirgendwo ist die Kameradichte höher, wird der öffentliche Raum lückenloser überwacht. Britische Fahndungsbehörden und Geheimdienste genießen nach Maßstäben westlicher Demokratien beispiellose Freiräume bei der Telekommunikationsüberwachung der Bürger. Ex cathedra wurden den Briten Dinge verordnet, um die anderenorts schmerzhaft gerungen wird - das reicht von Nacktscannern an Flughäfen bis zur Zusammenschaltung aller Bürgerdatenbanken oder zuletzt Internetzensur und Medienzugangsverbote für Bürger als Strafe für Copyright-Vergehen im Rahmen der Digital Economy Bill.

 

Der "rabiateste Überwachungsstaat der westlichen Welt"


"Das Mutterland der Demokratie", konstatierte die "Zeit" schon 2007 in einem Dossier, "verwandelt sich in den rabiatesten Überwachungsstaat der westlichen Welt. Die Regierung Blair ist stolz darauf."

 

Privacy International stellte die USA und Großbritannien im selben Jahr aus gleichem Grund an den Pranger - als Überwachungsstaaten, die kaum weniger aufdringlich gegen ihre Bürger agierten als China oder Russland. Großbritannien ist das einzige Land Europas, in dem die Polizei auch bei Bagatellvergehen DNA-Proben nimmt: Die Briten arbeiten seit mehr als einem Jahrzehnt an einer umfassenden DNA-Datenbank, die ausdrücklich auch mit dem Ziel vorangetrieben wird, Menschen zu erfassen, die in Zukunft eventuell einmal Verbrechen begehen könnten.

 

Die Phantasie britischer Behörden, Datenschützeralpträume zu kreieren, schien also lange unerschöpflich. Noch im Oktober vergangenen Jahres wurde öffentlich, dass Großbritannien im Rahmen der Terrorprävention jahrelang Öko-Aktivisten und Irak-Kriegsgegner erfasst und überwacht hatte. Ihre Daten flossen in eine zentrale Datenbank über "inländischen Extremismus" ein, in der auch Rechtsextremisten und Terrorverdächtige erfasst werden. All das ist für die Polizei überall und jederzeit zugänglich und wird durch spezialisierte, geheimdienstähnliche Abteilungen wie die National Public Order Intelligence Unit zusammengetragen, die sich auf sogenannte Forward Intelligence Teams stützt, die beispielsweise auf Demonstrationen Personenerfassung betreiben.

 

Die Versprechungen der neuen Regierung


Kein Wunder, dass da auch die Einführung von Personalausweisen - natürlich maschinenlesbar mit RFID-Chips und biometrischen Kennzeichen von Fingerabdrücken, Gesichtserkennung und Iris-Scan ausgestattet - heiße Debatten verursachte und erhebliche Ängste weckte. Doch auch diese "ID-Cards", die im Zuge der Umsetzung einer entsprechenden EU-Verordnung eingeführt werden sollten, stehen nun noch nicht einmal mehr auf dem Prüfstand - sie sollen weg. David Cameron und Nick Clegg stehen ihren Wählern gegenüber in der Pflicht, denn über Jahre wetterten sie gegen die Überwachungsmanie der Labour-Regierungen.

 

So steht Großbritannien nun bei der inneren Sicherheit sowie beim Thema Internet und Überwachung vor der totalen Kehrtwende. Am Donnerstag veröffentlichte die neue Tory-Liberals-Regierung ihre Koalitionsvereinbarung, die hier völlig andere Trends setzt. Von so einem Regierungsprogramm träumt in Deutschland allenfalls die Piratenpartei.

 

Der Vertrag verspricht folgende konkrete Vorhaben:

 

  • Die National ID Card wird nicht eingeführt.
  • Die zentralen Datenbanken National Identy Register und ContactPoint - eine Datenbank, die alle britischen Kinder unter 18 Jahre erfasst - werden abgeschafft.
  • Die nächste Generation biometrischer Pässe wird nicht eingeführt.
  • Die nationale DNA-Datenbank bekommt schärfere Auflagen bei Datenerfassung und -haltung.
  • Das Erfassen von Fingerabdrücken von Kindern in Schulen ohne elterliche Genehmigung wird verboten.
  • Die Überwachung des öffentlichen Raumes durch Kameras wird stärker reguliert.
  • Die anlassunabhängige Vorratsdatenspeicherung von Internet- und E-Mail-Daten wird beendet.
  • Das Verleumdungsrecht wird in Hinblick auf den Schutz der Meinungsfreiheit überprüft.
  • Die Regierung forciert den Breitbandausbau und fördert das Prinzip der Open-Source.

Darüber hinaus plant die britische Regierungskoalition ein behördliches Auskunftsrecht, nach dem Bürger Informationen anfordern und nutzen dürfen. Noch verhandelt wird dagegen über die Frage, was mit der stark umstrittenen Digital Economy Bill geschehen soll.

 

Vorerst besteht das Gesetz fort, obwohl es in einigen Punkten grundsätzlichen Positionen der Liberalen widerspricht: Sie drängen darauf, dass zumindest Web-Seiten-Sperren und das Kappen von Internetverbindungen als Strafe für Urheberrechtsverstöße abgeschafft wird.

 

In einem Positionspapier zu dem Thema bemängelten die Liberaldemokraten, das Gesetz konzentriere sich zu sehr auf die Bekämpfung von illegalem Filesharing, statt digitale Kreativität zu fördern. Für die brauche es auch die sogenannte Netzneutralität, die die Gleichbehandlung aller Daten in der Infrastruktur gewährleiste - und Provider davon abhalten würde, einzelne Diensteanbieter vorzuziehen oder gesondert zur Kasse zu bitten.