Bei der Suche nach jüdischem Leben im Kyffhäuserkreis trifft man bis heute auf offenen Hass
Juden haben wir nie gerne gehabt. Die wurden eben vernichtet. Und aus. 
Da hatte niemand großes Interesse daran, dass die weiterlebten.« Das 
sagt ein Thüringer 2016. Er sagt es unumwunden, bei zugesicherter 
Anonymität. 
Der Mann ist nicht der Einzige, der zur Nazizeit 
noch Kind war, ein politisch hellwacher Heranwachsender, der einer 
Familie mit NS-Funktionsträgern angehörte, und der heute unter vier oder
 sechs Augen Klartext redet.
Buchenwald
 »Die Vernichtung der Juden hat den Leuten nichts ausgemacht – nee, das 
hat keinen interessiert«, bekräftigt ein anderer Mann bei dieser 
Spurensuche in Thüringen. »Aber was im KZ Buchenwald passierte, wussten 
alle hier in der Gegend, auf den Dörfern.« Am detailliertesten wissen es
 die Leute in Weimar selbst. »Beim Thema Juden ging in der Stadt der 
Riss durch die Familien«, erinnert sich eine betagte Bewohnerin. »Da 
mochte die Mutter die Juden – und der Sohn war ein hohes Tier bei den 
Nazis, so was gab’s«, sagt sie und fügt hinzu: »Komisch. Über die Juden 
haben die sich aber nicht gestritten.«
Als jüdische Kaufhäuser 
und Geschäfte in Weimar geschlossen, Juden immer brutaler traktiert 
wurden, hatte keiner protestiert, sagt ein Rentner auf dem Markt mit den
 vielen Bratwurstständen. Auf der einen Seite steht das nach Hitlers 
Vorstellungen errichtete Hotel »Elephant«, auf der anderen befand sich 
einst das jüdische Tietz-Kaufhaus. »Die Leute dachten damals, na, 
irgendwie haben die Juden ja auch Dreck am Stecken. In den Kirchen 
predigten das sogar die Pfarrer.«
Zurück in die Provinz, in ein 
Dorf bei Mühlhausen, zur weiterhin vergeblichen Suche nach Zeitzeugen, 
die persönliche Erfahrungen mit Juden hatten, die welche kannten. »Nein,
 das wollte ich nie, ich habe niemals mit einem Juden gesprochen, nie 
einen getroffen. Ich will das bis heute nicht«, sagt 2016 beim 
Nachmittagskaffee mit Thüringer Kuchen eine 89-Jährige, die ihre 
damalige NS-Eliteschule über alle Maßen lobt: »Wunderbare Zeiten, 
Tanzstunde mit den Pimpfenführern, sogar ein Osteinsatz. Theaterspielen 
und Volkstänze bei den Frontsoldaten in der Ukraine.« 
Lodz
 Damals, in Lodz, sieht sie wenigstens einmal im Leben viele Juden ganz 
aus der Nähe: »Zum Stadtzentrum ging’s mit der Straßenbahn immer durchs 
Ghetto. Da waren rechts und links Gitterzäune, da liefen die Juden rum.«
So
 viele Jahre nach Kriegsende und Entnazifizierung sind vergangen. Haben 
sie und manche ihrer Bekannten und Freunde inzwischen ein anderes 
Verhältnis zu Juden? »Nein, bei dieser Erziehung steckt das einfach noch
 so drin. Juden mag ich auch heute nicht! Wir dachten eben damals, Juden
 sind Verbrecher, wenn wir welche unter SS-Bewachung mal in Weimar auf 
dem Bahnhof sahen.« Ein Verwandter war im thüringischen Kranichfeld bei 
der SS, trieb jüdische Häftlinge aus dem KZ Buchenwald auf den 
Todesmärschen durch Felder und Dörfer. Die 89-Jährige erwähnt beiläufig,
 dass da viele Juden umkamen. 
Dann entrüstet sie sich: »Die 
Russen haben mitten im Winter einen Verwandten von mir gezwungen, tote, 
verscharrte Juden wieder auszugraben und in einen eigens angelegten 
Friedhof nach Kranichfeld zu bringen.« Dann leuchten ihre Augen wieder: 
»Ja, ich war stolzes NSDAP-Mitglied, bin mit den anderen durch die 
Dörfer gezogen und habe gerne gesungen: ›Wir werden weitermarschieren, 
bis alles in Scherben fällt.‹«
Zu Führers Geburtstag wurde auch 
in den Zuckerfabriken der Kyffhäusergegend die Produktion gestoppt, 
mussten alle Arbeiter zum Appell antreten, strammstehen, »Heil Hitler« 
brüllen. So gut wie alle hatten es gerne getan. Ein Mann aus einem 
winzigen Dorf Thüringens, er war kein Kommunist, nicht einmal links 
angehaucht, machte laut Gestapo »Äußerungen gegen Hitler«. Er wurde 
verhaftet und sah tagtäglich aus nächster Nähe, wie Tausende von Juden 
endeten. Erst auf dem Totenbett gestand er einem Freund: »Ich war in 
Auschwitz, musste nach den Erschießungen an der Schwarzen Wand immer das
 Blut zusammenkehren.«
    
Brasilien 
Max L. gehörte zu Hitlers Pilotenelite. Für ihn ist das Liquidieren von 
Juden  Kriegsnormalität, nichts Besonderes. Wenige Monate, bevor er 
starb, war er zu einem Interview bereit. »Der Jude ist der Todfeind 
aller Nichtjuden!«, rief er aus. Das gab er sogar schriftlich: In einem 
kopierten Brief an seinen engsten Fliegerkumpan, der sich sofort nach 
dem Krieg nach Brasilien abgesetzt hatte, schrieb er das. »Später erfuhr
 ich, dass mein Schwager mal eine jüdische Frau hatte, die nach 
Argentinien gegangen war«, erzählte er im Interview. »Sein Schulfreund 
war Bertolt Brecht. Sie kamen alle zwei aus Augsburg. Der Schwager wurde
 von der Gestapo überwacht. Er hatte auch Brecht zur Emigration 
verholfen.«
Max L., der im Zweiten Weltkrieg zahlreiche britische
 Kampfflugzeuge abschoss, verlor zu DDR-Zeiten kein Wort über die 
Kriegszeit, über seine engen Kontakte zur SS und zum 
Reichsluftfahrtministerium in Berlin. Er hing an der Gegend, wollte 
nicht nach Brasilien zu seinem Freund, spazierte gerne über die einstige
 Piste des damaligen Militärflugplatzes von Esperstedt, wo er Piloten 
auf einer von Hitlers scheiternden »Wunderwaffen«, der Messerschmitt ME 
163 mit Raketenantrieb, ausgebildet hatte, die als erstes Flugzeug der 
Welt die Schallgeschwindigkeit erreichte. Im nahen Bad Frankenhausen 
logierte er mit den anderen Piloten luxuriös im Schloss »Hoheneck«.
Es
 gab Juden in diesen Thüringer Dörfern. Aus Bad Frankenhausen wurden 
mindestens fünf andere jüdische Bürger in Vernichtungslager deportiert 
und ermordet, oder sie kamen in Theresienstadt um.
Interessant 
ist, dass der einstige Kampfflieger Max L. nicht den berühmtesten 
jüdischen Bürger Bad Frankenhausens erwähnt hat, den Luftfahrtpionier 
Sigmund Israel Huppert. Der hatte 1902 das dortige private 
Kyffhäuser-Technikum als Direktor übernommen und zu Weltruhm geführt. 
Luftfahrtgeschichte schrieb Huppert, indem er 1908 Deutschlands ersten 
Studiengang für Flugzeugbau nebst Flugbetrieb startete und 
Propellermaschinen mitentwickelte. Studenten aus aller Welt kamen zu 
ihm, sogar aus dem fernen China. 
Emigration
 Am Technikum widerstand Huppert jahrelang heftigen antisemitischen 
Anfeindungen, bis ihn die 1931 gewählte NSDAP-Landesregierung Thüringens
 aus dem Amt drängte – er konnte noch rechtzeitig nach Schweden 
emigrieren. 1945 starb er in Stockholm. Hitlers 
Reichsluftfahrtministerium nutzte Hupperts Pionierarbeit maximal – nicht
 wenige große Namen von Militär und Rüstung wirkten nach seiner 
Emigration im Technikum.
Ulrich Hahnemann ist Direktor des 
Regionalmuseums in Bad Frankenhausen, und er hat eine Biografie über 
Sigmund Huppert geschrieben. Besonders verweist Hahnemann auf »die 
beiden Steinhoffs«. Einer, Johannes Steinhoff, wurde hochdekorierter 
Nazi-Jagdflieger, nach 1945 Bundeswehrgeneral, Vorsitzender des 
NATO-Militärausschusses. Den anderen, Ernst Steinhoff, machten die Nazis
 nach Hupperts Abgang zum Chef der Luftfahrttechnikabteilung. Die 
Amerikaner setzten ihn nach 1945 auf einen Chefposten im 
Air-Force-Raketenentwicklungszentrum.
Ein weiterer 
Technikum-Absolvent, Bernhard Hohmann, arbeitete gar als »Chief« in den 
US-Raumfahrtprogrammen, darunter an den Mondlandefähren, mit. »Viele 
weltbekannte Flugzeug- und Raketenkonstrukteure bauten auf dem 
Lebenswerk des Juden Huppert auf«, sagt sein Biograf Hahnemann.
Auf
 das Kyffhäuser-Technikum ist man in Bad Frankenhausen bis heute stolz. 
Dass es ein Jude war, der es groß gemacht hatte, haben die meisten 
vergessen. Und das Vergessen ist nicht einmal die schlimmste Form, mit 
dem Erbe umzugehen.
