Zur aktuellen Kampagne gegen ehemalige RAF-Mitglieder
Es können keine Illusionen 
darüber aufkommen, so politisch instruiert die justiziellen Verfahren 
gegen die RAF in den 70er-Jahren und der Folgezeit durchgeführt worden 
sind, so sind auch die gegenwärtigen zu lesen. Das rechtsförmige 
Verfahren zur Verwirklichung von politischen Zielen – ein Klassiker.
Die
 Kampagne unter der Flagge von „Aufklärung“ wurde 2007 gestartet als 
sich abzeichnete, der Staat muss die letzten verbliebenen Gefangenen aus
 der RAF aus der Haft entlassen. Es war kurz vor der Haftentlassung von 
Brigitte Mohnhaupt und als sich parallel schon abzeichnete, Christian 
Klar könnte fast zeitgleich, wenn aber nicht über eine Begnadigung, dann
 wahrscheinlich anderthalb Jahre später entlassen werden.
Damit 
zeichnete sich ab, dass ein für die Herrschenden seit dreieinhalb 
Jahrzehnten zum Alltag, zur Gewohnheit gewordener Zustand sich auflösen 
würde: immer ein paar Geiseln zu haben, die zumindest auf der 
ideologischen Ebene der Auseinandersetzung in den Manövern der 
Herrschenden durchgehend einen wichtigen Platz hatten. Plötzlich wären 
keine Namen mehr zur Verfügung für „Zellensteuerung“, für Hetze aller 
Art oder für das wichtige ideologische Muster, dass nur wegen der 
Gefangenen gekämpft würde, es wären keine Gefangenen mehr da, aus deren 
Reihen hin und wieder Zusammengebrochene präsentiert werden könnten, es 
wären keine Objekte für „Kinkelinitiativen“* oder sonstige ideologische 
Profilierungen von Parteigängern der herrschenden Ordnung mehr 
vorhanden. Was für ein Phantomschmerz damit in Aussicht!
Und das 
sollte passieren, ohne dass es zuvor gelungen war, und zwar auch nicht 
nach der sog. Wende 1989, auch nicht nach der Selbstauflösung der RAF 
1998, die Ausstrahlung, die Geschichtsmächtigkeit der RAF-Zeit aus der 
Welt zu schaffen?
Und das sollte zweitens passieren, als am 
Horizont längst die neue Krisenhaftigkeit und die fundamentale 
Fragwürdigkeit der Profitordnung sich ankündigte und sich zeigte? In 
einer Phase als die europäische Linke noch ihre Wunden leckte und ihre 
Augen durch die Depressionen enttäuschter Hoffnungen blind und eher nach
 Innen blickten, titelte die FAZ bereits: „Eisvögel der Revolution ... 
Die Zeichen stehen auf Sturm: Über die neue Lust am Aufstand ... Hören 
wir die Signale?“ (Mai 2005!) Die analytischen Höhen des Kapitals in 
Deutschland sprachen schon davon, dass zum ersten mal nach dem 2. 
Weltkrieg ein massenhafter – im Gegensatz zum minoritären während der 
60er/70er/80er-Jahre – Entzug von Loyalitäten in der Bevölkerung droht? 
Während die Oberfläche der politischen Diskussionen noch von den 
Argumenten der Sachzwänge für brutale ökonomische Massnahmen gegen 
gesellschaftlich Schwache bestimmt war, ging es in tieferen Strömen 
schon weiter mit geschichtlichen Prozessen, die Alternativen bieten 
könnten.
Wer hat die oben angesprochene Kampagne in vorderster 
Front präsentiert oder initiiert? Man erinnere sich an die ARD-Sendung 
Ende April 2007 mit einer gespenstischen Versammlung von vier Personen 
auf einer Bühne, darunter Stefan Aust und Boock. Wenn diese Personen 
auftauchen, weiss man, dass genau eine Tür weiter VS und andere 
Agenturen der ideologischen Herrschaftsicherung sitzen. Aust kann man in
 seinem reaktionären Ehrgeiz gar nicht überschätzen. Am meisten bekannt 
dafür, dass er den „Spiegel“ in die nationalliberale und ökonomisch 
neoliberale Epoche geführt hat (deren Gründungsakt übrigens der 
CIA-Putsch gegen die Allende-Regierung in Chile 1973 war), ist er schon 
lange bei den Herrschenden geschätztes Trüffelschwein für schmutzige 
ideologische Manöver in der RAF-Rezeption. Seine Biografie sieht er als 
sein Schicksal, man sieht ihn bei diesem Thema manisch beschäftigt. Bis 
hin auf die Ebene internationaler Antiterrorismus-Konferenzen wie Ende 
Juni letzten Jahres am Deutschen Historischen Institut in Washington - 
Stefan Aust als „Fachmann“ für die RAF. Und Boock, die auf Lebzeiten 
eingekaufte Sprechpuppe, der seinen Gesichtsausdruck, den einzigen ihm 
verfügbaren, in die Kamera zu hängen und das jeweils Zweckmässige von 
sich zu geben hat. Während in den Medien gerade die moralische 
Verdammung gegen die ehemaligen RAF-Aktiven, die schweigen, verhängt 
wurde, hat genau diese neue Kampagne ein skrupelloses Spiel mit der 
Psyche eines hinterbliebenen Sohnes angefangen. Es schien ihnen nicht 
schwer, Michael Buback auf die Rolle zu setzen, dass es etwas Neues zu 
ermitteln geben könnte, und das ist ja auch aufgegangen.
Bisher 
springt das Publikum auf diesen Zug mit drauf. Dabei werden alle, die 
darauf anspringen, es ginge überhaupt um Enthüllungen, um Aufklärung – 
der Geschichte um keinen Schritt näher kommen. Die kriminalistische Show
 ist überhaupt nur im Anschlag, weil es ein Publikum dafür gibt, das 
einen Rückfall in Obrigkeitshörigkeit vollbracht hat. Die Frage nach den
 Motiven der Auslösung der Kampagne, die jetzt schon mehr als zwei Jahre
 anhält, wird überhaupt nicht gestellt, es wird nicht danach gefragt, 
eher noch wird „Irrationalität“ angenommen. Schon ein Kommentar aus der 
Süddeutschen Zeitung vom April 2007 könnte aber ein Stück weiterhelfen. 
Sie spricht von einem „Fall angewandter Geschichtspolitik: von 
rückwirkender Verwandlung des Politischen ins Persönliche“. Und der 
Freitag kann es in seiner Ausgabe 15/2010 gar nicht mehr erwarten: „Und 
wenn einst im Untergrund agierende militante Politaktivisten sich … 
(heute) … auf kleinkriminellem Niveau gegenseitig anschwärzen, 
schwindet, so das Kalkül, womöglich auch die Aura der RAF.“
Das 
Thema der heutigen Zeit auf der politischen Ebene ist die persönliche 
Integrität. In den Zeiten der Vor-Katastrophe, in den Zeiten der Suche 
nach Auswegen und Alternativen, in den Zeiten des politischen und 
moralischen Bankrotts des herrschenden politischen Personals erleben wir
 lediglich den aktuellen Anlauf, ein Szenario gegen das Moment in der 
zeitgenössischen Geschichte zu schaffen, das sich in der Erinnerung der 
Bevölkerung mit politischer Überzeugung und Integrität verbindet. Eben 
alles das, was den Vertretern der für die meisten Menschen bedrückenden 
und hoffnungslosen alten Ordnung fehlt. Eine Leserzuschrift zu dem 
Beitrag im Freitag drückt es ganz hellsichtig aus: „Es geht nicht nur 
darum die 'Verwirrung' der Täter aus damaliger Zeit offenzulegen - es 
geht mehr darum die Verwirrung der Bevölkerung in Gegenwart und Zukunft 
sicherzustellen. Auf keinen Fall darf es später mal eine Erinnerung an 
die RAF geben, welche diese als Vorbild für Notstand-Abwehr / Widerstand
 gegen orwell'schen Überwachungsstaat erscheinen läßt. Anders kann ich 
mir die Energie zur Aufrechterhaltung der RAF-Justizerei nicht 
erklären.“
Die RAF ist aber nicht geschichtsmächtig geworden 
durch Interpretationen von Medien oder durch „Aura“ und „Mythen“, 
sondern durch ihre aktive Zeit, und das lässt sich im Nachhinein nicht 
wirklich weghistorisieren und relativiert sich nicht einmal durch 
persönliche Schwächen einzelner ehemaliger Aktiver, an denen schwere 
Zeiten und manches persönliche Scheitern genagt haben. Durch reaktionäre
 Kampagnen senkt sich nur das Niveau einer geschichtlichen Analyse 
früherer Geschehnisse. Und leider lässt sich auch schon jetzt 
vorauszusagen, dass das propagandistische Vorhaben neuer Strafverfahren 
und die Flut von Vorladungen ehemaliger RAF-Mitglieder und 
Freundeskreisen, verbunden mit Androhungen und Vollstreckung von 
Ordnungsstrafen und Beugehaft wegen der Aussageverweigerung, zwar im 
Sinne der Initiatoren keinen Erfolg bringen wird, „nur“ den einen oder 
anderen, der viele Jahre Knast hinter sich gebracht und danach einen 
Boden unter den Füssen gesucht hat, in diesem Rummel um seine Wohnung, 
um sein Geld und eventuell um seine Arbeitsstelle gebracht werden wird.
P.S.
 In seiner Nummer 16/2009 veröffentlichte der „Spiegel“ den Fund der 
„Grundsätze der Desinformation“, wie sie in BKA und den anderen Diensten
 schon zu Beginn der 70er-Jahre entwickelt worden sind. Es bleibt eine 
krasse Kluft, dass nach dem Lesen dieses Artikels niemand zumindest in 
den linken Medien die Linien zu den aktuellen Geschehnisse gezogen hat. 
Die Schläfrigkeit ist beachtlich.
Monika Ertl
April 2010
*Eine
 im Januar 1992 vom damaligen Bundesjustizminister vorgestellte 
Initiative, die mit der Absicht konzipiert war, das Gefangenenkollektiv 
zu spalten.

