Gefühlte Wahrheiten

Erstveröffentlicht: 
17.11.2016

Menschen überschätzen Ungleichheit und Migration, aber unterschätzen die Zahl von Übergewichtigen und Politikerinnen. Die Lücke bietet Raum für Populismus.

 

Einmal im Jahr veröffentlicht das britische Marktforschungsinstitut Ipsos Mori eine Übersicht namens Tücken der Wahrnehmung. Die Forscher vergleichen darin Bevölkerungsstatistiken mit Bevölkerungsglauben. Was glauben die Deutschen, wie viele Migranten in ihrem Land leben, und wie viele sind es tatsächlich? Fast bei allen diesen Gegenüberstellungen tut sich eine große Lücke auf. Der Migrantenanteil in Deutschland (in der Umfrage definiert als Anteil der "nicht in diesem Land Geborenen") liegt bei 12 Prozent, die Deutschen schätzten ihn aber auf 26 Prozent. Ähnliches gilt für die Ungleichheit: Das oberste eine Prozent verfügt in Deutschland über 30 Prozent des Vermögens, die Deutschen vermuten aber, es sei fast doppelt so viel, 59 Prozent. 

 

Diese beiden Beispiele zeigen schon, warum die Lücke zwischen Statistik und Wahrnehmung politische Folgen hat. Wer die ökonomische Ungleichheit überschätzt, wird schnellere und radikalere Antworten dagegen fordern. Wer glaubt, dass jeder Vierte im eigenen Land Ausländer ist, sorgt sich wahrscheinlich eher und um die heimische Kultur als derjenige, der weiß, dass nur jeder Achte hierzulande Ausländer ist. Risiken der Wahrnehmung haben die Forscher ihre Umfrage betitelt. Aus falscher Wahrnehmung kann echte Politik werden.

 

Wobei – was heißt hier falsch? Politik ist mehr als Statistik. Das Ideal ist schließlich die Volkssouveränität, nicht die Souveränität der Zahlen. Was Einzelnen wichtig ist, muss nicht damit übereinstimmen, was Tabellen sagen. Auch das gehört zur Freiheit. Menschliche Gehirne funktionieren nicht wie Rechenschieber. Reine Zahlen prägen sich nicht ein, sondern Erfahrungen. Diese setzen sich immer zusammen aus einem kognitiven (also rationalen) und einem emotionalen Teil. Erst wenn die beiden Bereiche sich verschalten, bleibt etwas wirklich hängen. Das ist der Grund, warum sich Gedächtniskünstler anschauliche Geschichten ausdenken, um lange Zahlenfolgen zu verknüpfen und sich so zu merken.

 

Was hat das mit Politik zu tun? Das kann man wunderbar an einer Tabelle sehen, die der Europa-Direktor der Hilfsorganisation Human Rights Watch twitterte und die im US-Wahlkampf weite Verbreitung fand. Die Tabelle verglich verschiedene Todesursachen in den USA nach jährlicher Häufigkeit: zwei Tote pro Jahr durch eingewanderte, islamistische Terroristen. 21 Tote durch bewaffnete Kleinkinder, 31 durch Blitzeinschläge. 737 Amerikaner sterben jährlich, weil sie aus dem Bett fallen. Und 11.737 werden von anderen Amerikanern erschossen. "Ich weiß, Fakten gelten nichts mehr", schrieb Andrew Stroehlein ironisch dazu, "aber dennoch, wegen des nostalgischen Werts."

 

Das war die Botschaft der Grafik: Wer sich wegen islamistischen Terrorismus allzu sehr sorgt, hat irgendwie den Bezug zu den Fakten, zur Realität verloren. Sind ja nur zwei Tote im Jahr.

 

Aber was folgt daraus, nimmt man die Statistik so ernst wie Stroehlein es offenbar gerne hätte? Dass die US-Regierung sich stattdessen ganz dem Kampf gegen tödliche Bettstürze verschreiben sollte? Das sind ja immerhin 350-mal mehr als Tote durch islamistischen Terror. Oder sollte die Politik andersrum islamistischen Terror zukünftig keinesfalls mit mehr Ressourcen bekämpfen als die Bedrohung durch Rasenmäher, immerhin verantwortlich für 69 Todesfälle im Jahr? Hier beißt sich der vermeintlich nüchterne Zahlenvergleich selbst in den Schwanz. Würde die Politik ihre Ressourcen rein danach verteilen, was wie viele Opfer fordert, müssten am Ende alle Gelder ausschließlich und sofort in die Bekämpfung der menschlichen Sterblichkeit fließen. Die ist schließlich immer noch Todesursache Nummer eins.

 

Wir haben uns aber mit unserer Sterblichkeit abgefunden und halten sie nicht für ein politisches Problem. So wie wir auch unsere Rasenmäher nicht als Bedrohung wahrnehmen, die eine Regierung nun mal bitte schleunigst zu beenden habe. 

 

Beim Thema Muslime liegen die Menschen besonders weit daneben


Anders ist es mit islamistischem Terrorismus. Der ist zwar statistisch kaum relevant, kommt aber von außen. Er passt zur chronischen Skepsis, mit der Menschen Fremdem begegnen, und die oft in Fremdenangst umschlägt. Hier blasen gewissermaßen die starken Emotionen die dünnen Zahlen auf. Das Ergebnis ist, dass trotz der Statistik viele Menschen islamistischen Terror als große Bedrohung wahrnehmen.

 

Dazu tragen natürlich Medien bei, sie können kaum anders. Medien problematisieren. Sie vergrößern einzelne Zustände, indem sie die Lupe draufhalten. Schließlich versprechen sie ihren Lesern und Zuschauern, ganz nah ran zu kommen. Es kann aber dazu führen, dass das, was da unter die Lupe und in die Schlagzeilen geholt wird, unverhältnismäßig groß erscheint.

 

Überall dort, wo sich eine besonders große Lücke zwischen Statistik und Wahrnehmung auftut, bietet sich dem Populismus ein Einfallstor. Denn je stärker die Wahrnehmung eines Themas durch Gefühle und nicht durch Zahlen und Argumente bestimmt wird, desto leichter haben es Politiker, die sowieso nicht argumentieren wollen. Und alle anderen dringen dann mit ihrer Rationalität kaum noch durch.

 

Vielleicht ist das politisch aufschlussreichste an den Statistiken von Ipsos Mori deshalb nicht, dass menschliche Wahrnehmung überhaupt von Statistik abweicht, sondern bei welchen Themen sie in welche Richtung abweicht. Was unterschätzt und was überschätzt wird, kann einen Hinweis darauf geben, welche Themen wie stark emotionalisiert sind. Bei fast keinem Thema überschätzen Menschen die Zahlen so stark wie bei der Zahl der Muslime in ihrem Land. In den USA lag die Schätzung 2014 bei 15 Prozent, tatsächlich ist es nur ein Prozent. Die Franzosen schätzten den Anteil auf 31 Prozent obwohl es nur acht sind. In Deutschland liegen Realität (sechs Prozent) und Wahrnehmung (19 Prozent) ebenfalls weit auseinander.

 

Gleichzeitig unterschätzen fast alle dramatisch die Zahl der Übergewichtigen und den Anteil von Frauen in der Politik. Beides sind offenbar keine Themen, zu denen viele Menschen starke Gefühle haben und die deshalb politisch eher unwichtig sind. Menschen unterschätzen übrigens auch ständig die Wahlbeteiligung, was beispielsweise dazu führen könnte, dass sie es normal finden, wenn sie selbst nicht zur Wahl gehen.

 

Wie sollte Politik auf diese Lücken reagieren? Der Chef von Ipsos Mori, Bobby Duffy, sagt: "Politiker sollten diese falschen Wahrnehmungen nicht so missverstehen, dass Menschen nur neu gebildet und erzogen werden müssen und sich ihre Ansichten dann schon ändern werden. Aber sie sollten auch vermeiden, politische Antworten zu geben, die unbegründete Ängste nur verstärken." So selbstverständlich diese Grundsätze klingen: Sie sind es natürlich nicht.

 

Anmerkung: Da es zu Missverständnissen kam, was im ersten Beispiel genau mit "Migrantenanteil" gemeint sei, aber wir die Definition aus der Ipsos-Umfrage nachträglich zur Klärung im Artikel ergänzt.