Hoyerswerda: Angst als Antrieb

Erstveröffentlicht: 
21.09.2016

Vor 25 Jahren griffen Neonazis in Hoyerswerda eine Unterkunft für Vertragsarbeiter an. Das hat den Ruf der Stadt ruiniert. Doch die Bürger machen es den Rechten schwer.

 

Mit Blaulicht rasen die Mannschaftswagen der Polizei vor die Wohnblocks in der Neustadt von Hoyerswerda, von den Ladeflächen springen behelmte Polizisten. Die Betonfassade des Plattenbaus in der Albert-Schweitzer Straße 21 ist durch Brandsätze geschwärzt, Fensterscheiben sind eingeworfen. Draußen steht eine Menschenmenge, grölt und randaliert. Drinnen, unter den Bewohnern aus Mosambik, Angola, Ghana und Kuba, herrscht Panik.

 

Auch Polizeimeister Karsten Hilse, 27, schiebt sich mit seinem Schild durch die Masse der etwa 200 Angreifer und Schaulustigen. Sie zurückdrängen, lautet die Anweisung des Einsatzleiters, einen Korridor schaffen zwischen ihnen und dem belagerten Haus. Die Arbeiter aus den DDR-Bruderländern schufteten bis vor Kurzem im südbrandenburgischen Kohletagebau, in der Kokerei Lauchhammer oder im nahen Kraftwerk Schwarze Pumpe. Doch der Systemwechsel hat sie arbeitslos gemacht. Man sieht sie jetzt den ganzen Tag hier auf der Schweitzer-Straße, sie fallen auf mit ihren coolen T-Shirts und ihren Kassettenradios japanischer Marken. Das Gerücht geht um, sie hätten ihren Lohn zum Teil in Westmark erhalten. Das schürt Neid unter den Einheimischen mit ihren ostigen, farblosen Einheitsklamotten.

 

Am 17. September 1991 fliegen die ersten Steine.

 

Die nächsten fünf Tage ist Hilse hier im Einsatz, jeweils 16 Stunden, dazwischen acht Stunden Schlaf. Fünf Tage randalieren einheimische und zugereiste Neonazis gemeinsam mit Mitläufern, angestachelt von Schaulustigen. Molotowcocktails fliegen auf die Polizisten und das Haus. Einige Krawallmacher werden festgenommen. Am fünften Tag kommt endlich die Bundespolizei zu Hilfe.

 

Die Einsatzleitung entscheidet: Die Ausländer müssen raus. In eine Jugendherberge im hundert Kilometer entfernten Pirna, die Zuflucht gewähren will. Als die Bedrängten in Bussen aus der Schweitzer-Straße abtransportiert werden, zerschmettert ein Stein ein Seitenfenster, die Belagerer jubeln. "Was da passierte, war für mich ein Kulturschock", erzählt Hilse heute. Eine solche Gewaltbereitschaft kannte die als Staatsgewalt respektierte Polizei damals nur von Fußballrowdys. Doch Randale mitten im Wohngebiet, gegen Ausländer und Uniformierte zugleich? "Das war auch eine Folge der plötzlichen Meinungsfreiheit", sagt Hilse.

 

Hilse sagt das 25 Jahre danach nicht nur als Polizist, sondern auch als Ortsgruppenchef der AfD.

 

Die fünf schwarzen Tage von Hoyerswerda sind bis heute ein Trauma für die Stadt. Zeitgleich brennt es auch in Saarlouis, ein Jahr später in Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen. Doch keiner dieser Orte ist so stigmatisiert wie Hoyerswerda. Dass "ausländerfrei" 1991 Unwort des Jahres wurde, liegt auch an der Belagerung der Schweitzer-Straße. Auf Deutschlandreisen gaben Hoyerswerdaer in den 1990er Jahren schamvoll vor, "aus der Nähe von Dresden" zu kommen. Seit 2008 tragen die Autos das Kennzeichen BZ der Kreisstadt Bautzen. Erst seitdem, sagt eine Anwohnerin, werde sie auf Reisen nicht mehr auf ihre Stadt angesprochen.

 

Der Ruf von Hoyerswerda ist bis heute ruiniert. Doch die Angst, das Grauen von 1991 könne sich wiederholen, hat auch bewirkt, dass diese Stadt anders als andere Orte in Sachsen mit Rechtsextremen umgeht. Dass sie aufmerksamer ist. 

 

Während es in Freital eskaliert, wird in Hoyerswerda diskutiert


Als 2013 Flüchtlinge in Hoyerswerda in Notunterkünfte einziehen sollten, lud das Rathaus die Bürger sofort zum Gespräch. Im Jugendclub Ossi kamen Befürworter und Gegner geordnet zu Wort. In sächsischen Städten wie Freital oder Bischofswerda dagegen liefen ähnliche Versammlungen aus dem Ruder, weil die Verwaltung zu spät reagiert hatte, es gab Randale vor Flüchtlingsunterkünften. In Hoyerswerda dagegen passt selbst die gestiegene Zahl der registrierten rechten Straftaten ins Bild: Wegen verfassungswidriger Kennzeichen gab es 2013 neun Anzeigen, 2015 waren es mehr als 20. Einen Grund sieht die Polizei darin, dass die Bürger Hakenkreuzschmierereien und -aufkleber häufiger anzeigen.

 

Vor fünf Jahren, 2011, hätten die Neonazis beinahe noch einmal zugeschlagen. Einer Berliner Dokumentarfilmerin war es gelungen, zwei Ghanaer und einen Mosambikaner zurück nach Hoyerswerda zu holen, um sie in der Schweitzer-Straße nach ihren Erinnerungen an 1991 zu fragen. Für die Glatzköpfe auf dem in Sichtweite gelegenen Spielplatz eine Provokation. Vor laufender Kamera kamen sie auf die Besucher zu. "Geh zurück in den Busch, du Bimbo", brüllte einer. Anwohner hielten Bananen aus dem Fenster. Die Polizei rückte an. Niemand wurde handgreiflich, denn die drei früheren Bewohner ertrugen den Hass und die Aggression gelassen. 2012, ein Jahr später, belagerten diese Neonazis die Wohnung zweier junger linker Aktivisten so hartnäckig, dass die Polizei entschied, das Paar aus der Stadt zu bringen, statt es vor Ort zu schützen. Ein letzter Sieg der Rechten.

 

Seitdem schwand der Einfluss der Rechtsextremisten. Bürger gründeten die Initiative Gegen Gewalt, das Bündnis für Zivilcourage; als 2013 die ersten Flüchtlinge ankamen, folgte das Netzwerk Hoyerswerda hilft mit Herz. Die wenigen stadtbekannten Neonazis konnten nicht verhindern, dass der Oberbürgermeister 2014 in der Neustadt ein Denkmal für die Opfer der Belagerung enthüllte: Zwischen Schweitzer-Straße und dem Lausitz-Center steht jetzt ein rechteckiges Tor aus dunklem Stein mit einem Regenbogen, das an die Betroffenen erinnert. Hoyerswerda hat einen festen Ort des Gedenkens.

 

Die Sorge vor neuer Gewalt treibt auch die neue Generation um. Matthias Galle und Matthias Groß kennen die Belagerung der Schweitzer-Straße nur durch Erzählungen, sie waren damals vier und fünf Jahre alt. Die beiden studieren und leben heute in Dresden und Berlin, forschen aber in ihrer Heimatstadt seit Jahren zu den Hintergründen der Belagerung. Sie haben die Initiative Pogrom 1991 gegründet, die informieren und aufklären will – aus Sicht der Vertragsarbeiter, aber auch der Hoyerswerdaer. Für ihre Onlinedokumentation interviewten sie Opfer der Belagerung, befragten Anwohner, analysierten den Polizeieinsatz und die Berichterstattung. Sie kennen auch die Vorbehalte mancher Einheimischer gegen ihre Initiative. "Wir haben einen kritischen Standpunkt, den die Leute nicht gewohnt sind", sagen sie. Sie leben mit dem Vorwurf, dass sie das Bild der Stadt prägen, obwohl sie nicht mehr hier leben. Mit dem Vorwurf, das Nest zu beschmutzen. 

 

Wer heute in Hoyerswerda Neonazis sucht, muss genau hinsehen


Die Drahtzieher von damals haben ihr Treiben in umliegende Städte verlagert. Der Verfassungsschutz geht derzeit von 20 ortsansässigen Neonazis aus, "die mit eigenen Aktivitäten öffentlich kaum mehr in Erscheinung" träten. 2015 verlischt noch ein Brandsatz wirkungslos auf dem Vorplatz einer Flüchtlingsunterkunft. Die Neonazi-Gruppe Nationaler Widerstand Hoyerswerda tritt nicht mehr öffentlich in Erscheinung. Und die Bewegung Hoygida fasst erst nie richtig Fuß. Als im Mai 2016 nahe dem Lausitzer Platz 60 Neonazis zum Thema "Für unsere Kinder" und gegen Ausländer demonstrieren, sind Einheimische kaum noch beteiligt. Gegendemos gibt es schon länger keine mehr. "Gegen die Rechten zu protestieren, hieße, die Neonazis aufzuwerten", sagt die Sozialarbeiterin Irena Kerber vom Verein CVJM. 

 

Wer heute in Hoyerswerda Neonazis sucht, muss genau hinschauen. In der beschaulichen Altstadt mit dem Kino, dem Schloss, den Cafés und der Kulturfabrik ist von ihnen nichts zu sehen. Doch auf der anderen Seite des Flusses, wo das Granitpflaster in verwitterte Betonplatten übergegangen ist und statt der Ziegeldächer die Elfgeschosser in den Himmel ragen, zeigen sie sich gelegentlich. Selten offen, meist in heimlich platzierten Hassbotschaften, mit denen sie ihr Revier markieren: Dann kleben morgens Nazi-Sticker an Laternenmasten und Papierkörben in den Betonblockvierteln, am Arbeitsamt oder in der Grünanlage. Bis aufmerksame Bürger oder der städtische Bauhof sie wieder abkratzen. Die Sticker sind das Kampfmittel der Rechten. Die letzten Stickerwellen gab es 2015, seitdem ist Ruhe.

 

Kerber ist eine Frau mit rundem Gesicht und offenem Blick, geboren und aufgewachsen in dieser Stadt, die sie nur für ihr Studium in Rheinland-Pfalz verlassen hat. Auf einem Verkehrsschild am Parkplatz hinter dem Lausitz-Center hat sie die angewitterten Reste eines Aufklebers entdeckt: "Ewige Treue", schwarz-weiß in Versalien. Kerber popelt das "Treue" weg, den Rest lässt sie stehen. "Gegen 'ewig' ist nichts einzuwenden", sagt Kerber – der CVJM ist ein christlicher Verein. 

 

Der Polizist von damals ist heute bei der AfD


Es gibt wahrscheinlich in Hoyerswerda niemanden, der den Neonazis näher ist als die Frau vom CVJM. Mehrmals pro Woche schließt Kerber in der Grünanlage der Schweitzer-Straße einen bunt angestrichenen Bauwagen auf, sie stellt Bierbänke, Spielsachen und Sportgeräte auf die Wiese in den Schatten der Bäume. Dann kommen die Kinder, zwischen 10 und 13 Jahre alt, zum Basteln, Spielen, Reden. Ein Junge erzählt von der Eins in Mathe. Ein anderer von seinem fettleibigen Bruder, der beim Klauen im Supermarkt erwischt wurde, weil der Arzt sein Essen rationiert hat. Manche plappern gedankenlos nach, was sie zu Hause über Ausländer und Auschwitz hören. Kerber erklärt ihnen dann, was sie da eigentlich sagen, sie fragt nach, wenn einer behauptet, ein Asylant habe ihm das Handy geklaut. Anfang 2015 durften plötzlich mehrere Kinder nicht mehr an den Bauwagen kommen. Der CVJM hatte eine jugendliche Punkerin als Praktikantin eingestellt.

 

Einige der Eltern lungern oft in Sichtweite des Bauwagens auf einem Spielplatz, sie rauchen, quatschen, manche trinken. Geht Kerber dort vorbei, stellen sich kahl rasierte Männer in frakturbeschrifteten T-Shirts breitbeinig hin, die Fäuste in die Hüften. Es ist ein nonverbales Signal im Ringen darum, wer die Hoheit hat hier auf der Schweitzer-Straße. Manchmal geht Kerber mit der ganzen Kindergruppe durch das Wohnviertel. Verdrängung durch Präsenz nennt sie das. "Man soll uns sehen."

 

Karsten Hilse, der Polizist von der Schweitzer-Straße, ist heute 52. Der Mann, der damals Neonazis davon abhielt, die Bewohner der Schweitzer-Straße anzugreifen, führt heute die AfD-Ortsgruppe von Hoyerswerda an. "Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung lehne ich grundsätzlich ab", das betont er gleich mehrmals auf einem Spaziergang zwischen Schweitzer-Straße und Denkmal.

 

Schnell wird klar: Hilse ist ein Mann, der mit der eigenen Partei fremdelt. Er leugnet nicht, dass die Ablehnung des Islams und die geschürte Angst vor Kulturverlust Probleme sind, die in Hoyerswerda kaum eine Rolle spielen. Bedroht eine Moschee mit Minarett die Religionsfreiheit der Christen, wie es das AfD-Parteiprogramm glauben macht? Hilse erzählt etwas vom Dominanzanspruch des Islams und lenkt auf die Probleme der Energiewirtschaft in der Region. "Wir haben hier andere Sorgen." Würde er auch den Deutschen unterstellen, dass sie Probleme mit Jérôme Boateng haben, wie es AfD-Vize Alexander Gauland tat? "Ich persönlich mag Boateng sehr", sagt Hilse. Darf man mit so etwas Politik machen? "Ich würde das nicht."

 

Und gegen Flüchtlingsheime demonstrieren, wie es AfD-Spitzenpolitiker tun? Nein, sagt Hilse. Er habe aber schon mal darüber nachgedacht, in Hoyerswerda selbst zu einer Kundgebung aufzurufen – zu den regional wichtigen Themen. "Das Problem ist, dass man damit auch die Extremisten anzieht." Dann doch lieber keine Demo. 

 

Die Flüchtlinge wollen bleiben


Es gibt in Hoyerswerda heute Flüchtlinge aus Syrien oder dem Libanon, die mit strahlenden Gesichtern davon erzählen, wie wohl sie sich hier fühlen, obwohl im Frühjahr die NPD aufmarschierte. Einer von ihnen, Shayesh al-Mohamad, 27, wohnt sogar in der Schweitzer-Straße, am Ort der Belagerung. Er wolle bald als Automechaniker arbeiten, wie er es schon zehn Jahre in Syrien tat, sagt er.

 

Nazer Kassem aus dem Libanon, 40, ist in einem Friseurladen der Altstadt eine mittlerweile geschätzte Fachkraft. Denn er beherrscht die Fadentechnik und die Nassrasur bei Männern, seit er 13 Jahre alt ist. Saher Rahmoun, 32, will ein Praktikum im Fitnesscenter am Lausitzer Platz machen. Er hat dort eine Freundin gefunden. Keiner von ihnen will weg hier.