Der Westen hängt den Osten ab

Erstveröffentlicht: 
21.09.2016

Das Wachstum im Osten reicht nicht, um zum Westen aufzuschließen. Aus Sicht der Bundesregierung gefährdet zudem Fremdenhass den Aufholprozess und den sozialen Frieden.

 

Die sozialen Verhältnisse in Ost- und Westdeutschland driften auseinander, die östlichen Bundesländer haben immer weniger Anschluss an die westlichen. Das geht aus dem Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit hervor, den die Beauftragte der Bundesregierung für die ostdeutschen Bundesländer, Iris Gleicke (SPD), vorgestellt hat. "Der Aufholprozess läuft seit Jahren äußerst verhalten. Und das ist noch die freundliche Formulierung", sagte Gleicke bei der Vorstellung.

 

Man könne bei entsprechender Betrachtung zwar positive Entwicklungen aus den Wirtschaftszahlen herauslesen. Allerdings liege das reale Wachstum unter dem der alten Länder. Das bedeute, dass die Unterschiede zwischen West und Ost zunehmen. Auf absehbare Zeit rechnet sie mit keiner Änderung. "Der Abstand ist mit den derzeitigen Wachstumsraten nicht aufzuholen." 

 

Das Wirtschaftswachstum stieg dem Bericht zufolge in Ostdeutschland je Einwohner von 1991 bis 2015 von 42,8 Prozent auf 72,5 Prozent der Westländer. Die Wirtschaftskraft je Einwohner ist damit aber im Osten immer noch 27,5 Prozent niedriger als im Westen. Ohne Bezug zur Einwohnerzahl wuchs die ostdeutsche Wirtschaft 2015 in den Flächenländern real lediglich um 1,5 Prozent, die westdeutsche hingegen um 1,7 Prozent.

 

Es gebe nicht viel Positives zu berichten, sagte Gleicke. Zwar habe sich der Ausbildungsmarkt entspannt. Das aber sei die positive Wendung eines demografischen Problems – es gebe zu wenig junge Menschen. Auf die Frage nach guten Nachrichten in dem Bericht antwortete Gleicke: "Für die Fröhlichkeit habe ich mein schönes gelbes Kleid angezogen." 

 

Gleicke sieht in der Zuwanderung und dem Zuzug von Flüchtlingen keine Lösung für den Osten. Ziel müsse sein, "dass Ostdeutschland für Flüchtlinge mit Bleibeperspektive zu einer neuen Heimat wird". Sie warne aber davor, anzunehmen, dass sich die Abwanderung aus dem Osten durch die Flüchtlingszuwanderung lösen lasse.

 

Dauerthema im Ost-West-Vergleich ist das Rentenrecht. Die Ost-Beauftragte verteidigte die getrennten Regelungen als "gut und richtig für die Ostdeutschen". Sie seien so nicht die Verlierer der deutschen Einheit. Es sei aber auch richtig, die Ost-Renten jetzt anzugleichen – nach jahrelanger niedriger Einstufung. Wichtig sei, ehemalige Niedrigverdiener in der Rente besserzustellen, damit sie nicht in Grundsicherung rutschten. Die von dem Bundesarbeitsministerium geplante Lebensleistungsrente sei dafür der richtige Weg.

 

Gleicke führte als Problem bei der Angleichung von Ost und West auch gewachsene Unterschiede an. Die westdeutsche Gesellschaft sei egalitärer als die westdeutsche, sagte sie. Die Einkommensunterschiede seien im Westen geringer. Zwar gebe es im Osten etwa mehr Frauen in Führungspositionen. Aber in der Gesamtschau habe der Osten das Problem, dass vielerorts grundlegende Infrastruktur wegbrach. Wenn der Staat nicht gegensteuere, bestehe die Gefahr, dass in kommender Zeit "zunichte gemacht" werde, was über Jahre aufgebaut wurde.   

 

Bürgerlicher Protest und rechtsextremistische Agitation verschwimmen


Gleicke äußerte sich auch zur Zunahme rechtsextremistischer Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. Diese gefährdeten den wirtschaftlichen Aufholprozess und den gesellschaftlichen Frieden. "Der Rechtsextremismus in all seinen Spielarten stellt eine sehr ernste Bedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar", sagte Gleicke und wiederholte damit eine Einschätzung des Einheitsberichts, über die vorab das Handelsblatt berichtet hatte.

 

Die Regierung verweist darauf, dass im vergangenen Jahr die Zahl der rechtsextremen und fremdenfeindlichen Übergriffe stark zugenommen hat, was auch Recherchen von ZEIT ONLINE zeigten. "Neben unzähligen Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte sind gewalttätige Ausschreitungen wie in Heidenau und Freital zu Symbolen eines sich verfestigenden Fremdenhasses geworden", heißt es weiter. Bei den Protesten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sei deutlich geworden, dass die Grenzen zwischen bürgerlichen Protesten und rechtsextremistischen Agitationsformen zunehmend verschwömmen.

 

Gleicke forderte größere Anstrengungen gegen rechts, besonders auch von der Gesellschaft und den Bürgern. Die große Mehrheit der Ostdeutschen sei nicht fremdenfeindlich oder rechtsextrem, sagte sie. Aber sie wünsche sich, dass diese Mehrheit noch deutlicher Stellung beziehe gegen "den braunen Spuk". 

 

BKA warnt vor Eskalation der Gewalt


BKA-Chef Holger Münch warnte in der Rheinischen Post vor Gewalt im Wahljahr 2017. "Wir sehen diese emotionale Stimmung, wir sehen die Hasspostings aus dem rechten Bereich, wir sehen die Reaktionen aus dem linken Spektrum", sagte Münch. Das alles schaukele sich gegenseitig hoch. 

 

Bereits im vergangenen Jahr sei ein starker Anstieg der Straftaten im Bereich der politisch motivierten Kriminalität rechts und links zu verzeichnen gewesen. Das BKA lege nun einen besonderen Bekämpfungsschwerpunkt auf die Hasspostings, "weil die Verrohung der Sprache vor der Tat erfolgt", erläuterte Münch. Das BKA setze hier mit gezielten Recherchen an, mit mehr Strafanzeigen, mehr Ermittlungen. "Gerade mit Blick auf das Wahljahr beobachten wir den Aufschaukelungsprozess zwischen rechtem und linkem Spektrum mit Sorge", sagte der BKA-Chef.

 

2015 gab es nach Recherchen von ZEIT ONLINE und DIE ZEIT bundesweit insgesamt 222 Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte. Bisher wird in einem Fall wegen des Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt – das Verfahren wegen eines schweren Böllerangriffs in Freital bei Dresden hat die Bundesanwaltschaft übernommen. Bei den Recherchen wurde deutlich, dass nur in den wenigsten Fällen Täter ermittelt und angeklagt werden. Bis Jahresende gab es nur vier Urteile.