Eine seltsame Karriere: Felix Kersten – der Leibarzt von SS-Chef Heinrich Himmler – ließ sich nach dem Ende der NS-Herrschaft als Held feiern. Angeblich hatte er Hunderttausende Menschen vor den Nazis gerettet. War er ein Hochstapler, ein Fälscher und womöglich sogar der untergetauchte Mörder Felix Huberti?
Leipzig. Ende März 1919 erfuhren Zeitungsleser im politisch seinerzeit ruhigen Leipzig von einem Verbrechen in der Nachbarstadt Halle: „Der seit fünf Tagen verschwundene Spartakistenführer, Obermatrose Meseberg, ist gestern Nachmittag als Leiche aus der Saale gelandet“, hieß es etwas ungelenk im Leipziger Tageblatt. „Wie die Ermittlungen ergeben haben, ist er durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet und dann ins Wasser geworfen worden. Auf die Ermittlung des Täters ist eine Belohnung von 1000 Mark ausgesetzt.“
Der Mörder hieß Felix Huberti. Ein Geheimnis umwittert sein späteres Leben, doch die Anfänge lassen sich mit ein wenig Recherche erhellen. Er kam laut Geburtsurkunde am Nachmittag des 24. September 1897 in Leipzig zur Welt, wuchs in einem stattlichen Wohn- und Geschäftshaus am Johannisplatz auf. Sein 30-jähriger Vater hatte es bereits zum Verleger und Chef einer Handelsakademie gebracht. Ein erstes kleines Rätsel: 1906 – 13 Jahre, bevor auch Felix verschwand – verliert sich die Spur des Vaters. Felix’ Mutter zog mit ihrem Sohn nach Halle, wo sie später eine Pension in einem gutbürgerlichen Viertel führte.
Rote Matrosen sichern Macht der Revolutionäre
Im Dezember 1914 machte der erst 17-Jährige Abitur. Wegen des Ersten Weltkriegs konnten Schüler die Prüfung vorzeitig ablegen. Huberti allerdings kam danach nicht gleich zur Armee, sondern startete an der halleschen Universität ein Medizinstudium und sattelte nach einem Jahr auf Geschichte sowie Deutsch um. Über seine spätere Militärzeit fehlen gesicherte Informationen, angeblich brachte er es zum Sanitäts-Vizefeldwebel. Jedenfalls kehrte er kurz nach Kriegsende an die Uni zurück, um es ab Dezember 1918 erneut mit einem Medizinstudium zu versuchen.
Eine bewegte Zeit: Die Novemberrevolutionäre hatten den Kaiser gestürzt, Arbeiter- und Soldatenräte hielten danach einen Teil der Macht in ihren Händen. Im roten Halle verfügten sie über Militär-Einheiten wie Karl Mesebergs Matrosenkompanie. Gleichzeitig entwickelte sich zaghaft eine parlamentarische Demokratie, in der die SPD-geführte Reichsregierung auf den Beistand deutschnationaler Freikorps baute.
Huberti soll sich schon im Februar 1919 im Kampf gegen die Revolutionäre hervorgetan und einen ihrer Anführer verhaftet haben – die Umstände liegen im Dunkeln. Fortan umwehte ihn der Ruf eines Draufgängers.
Freikorps-Offizier Hubertierteilt Mordbefehl
Auf Geheiß der Reichsregierung marschierte Anfang März ein Freikorps in Halle ein und entwaffnete die Matrosen nach einem Blutbad. Um jene Niederlage zu besiegeln, bildeten Schüler und Studenten ein weiteres Freikorps, in dem Huberti als Leutnant eine Kompanie führte.
Einer seiner Untergebenen – der spätere Schriftsteller Ernst Ottwalt (1901–1943) – hinterließ einen Tatsachenroman über das Geschehen. Demnach galt der Leutnant als „tolle Nummer“ und fragte eines Abends: „Wer meldet sich freiwillig, um eine Verhaftung ohne Haftbefehl vorzunehmen?“ Bewerber fanden sich zahlreich.
Etwa eine Woche zuvor hatte ein linker Mob einen Freikorpsoffizier umgebracht und in die Saale geworfen (einige Beteiligte wurden zum Tode verurteilt). Möglicherweise ging es Huberti nach diesem Mord um Rache.
Wie die Behörden später ermittelten, hatte er nicht nur die Verhaftung des bekannten Revolutionärs Meseberg, sondern auch dessen Hinrichtung befohlen. Ein vierköpfiges Kommando erschoss den Obermatrosen nachts auf der einsamen Hafenbahnbrücke und warf die Leiche des 28-Jährigen in die Saale. Der Befehlsgeber erhielt nach der Tat keine offizielle Rückendeckung. Reichsregierung und Militär steuerten inzwischen auf eine Verständigung mit den Revolutionären zu, die durch Hubertis Verbrechen gestört wurde. Die Justizbehörden suchten ihn nun als Mörder.
Gerüchte, die rechtsextreme Organisation Concul stecke hinter der Tat, blieben unbewiesen, die Fahndung nach Huberti verlief im Sande. Schon Schriftsteller Ottwalt mutmaßte, dass der Flüchtige sich zum finnischen Militär abgesetzt hätte.
Kehrte Felix Huberti als Felix Kersten zurück?
1922, drei Jahre nach dem Verschwinden des Mörders, tauchte in Berlin ein Mann auf, der sich Felix Kersten nannte. Er war angeblich ein Jahr jünger als Huberti, behauptete, ein deutschstämmiger Este zu sein und besaß seit 1920 die finnische Staatsbürgerschaft.
Er versuchte sich zunächst als Filmschauspieler. War er in Wahrheit Felix Huberti, der für den Rest seines Lebens die Rolle des Felix Kersten spielte? Sein Erfolg beim Film hielt sich in Grenzen, doch dann ging er bei einem tibetischen Masseur in die Lehre und fand als Therapeut alsbald prominente Kunden. 1939 stieg er zum Leibarzt von SS-Chef Heinrich Himmler (1900–1945) auf, den Kersten nach eigener Darstellung von Magenkrämpfen erlöste. Der Masseur firmierte nun als Arzt für Naturheilkunde.
Nach dem Ende der NS-Herrschaft rühmte sich der mittlerweile in Schweden lebende Therapeut in einem Buch, durch seinen besänftigenden Einfluss auf Himmler Menschen vor dem Tod bewahrt zu haben. Biografen, Historiker, Presse und Hörfunk im Westen würdigten ihn bald als Retter Zehntausender oder gar Hunderttausender, die Niederlande verliehen ihm einen hohen Orden.
Der Geehrte starb 1960 und geriet weitgehend in Vergessenheit. Vermutlich hatte er sich für NS-Opfer eingesetzt, doch angesichts der Masse seiner Heldentaten keimte in Historikerkreisen schließlich Skepsis auf. Große Teile seines Beweismaterials bestanden aus Kerstens eigenen Aufzeichnungen, die er angeblich in der Nazi-Zeit verfasst hatte. Derlei kurz nach dem Krieg zu fabrizieren, wäre – verglichen mit der Erfindung von Hitlers Tagebüchern in den 1980er-Jahren – ein Klacks gewesen. Mittlerweile wurde eines der Kersten-Dokumente als Fälschung entlarvt. Zudem gilt eine seiner Kernbehauptungen – die Rettung des holländischen Volkes vor der Verschleppung nach Osteuropa – als abwegig.
Finnische Aktenbelegen Pass-Fälschung
„Er war ein ebenso überzeugender wie unaufrichtiger Mensch, genial und gefährlich zugleich, weil er mit der Denkschwäche und dem Wunderglauben seiner Mitmenschen virtuos spekulierte – eine fast immer erfolgreiche Spekulation“, behauptet Werner Neuß (79), ein ehemaliger Arzt aus Baden-Württemberg. Neuß’ Vater (1899–1982) war als Jugendlicher mit Huberti eng befreundet, wirkte später als Historiker in Halle und hinterließ in privaten Aufzeichnungen eine Vermutung: Kersten könnte Huberti gewesen sein.
Sohn Werner Neuß müht sich seit einem Jahrzehnt, diese Theorie zu untermauern und veröffentlichte in kleiner Auflage das inzwischen vergriffene Buch „Mörder, Mentor, Menschenfreund“. Auf seinen größten Trumpf stieß der Freizeit-Forscher im finnischen Militärarchiv. 1921, ein Jahr nach seiner Einbürgerung, diente der angebliche Felix Kersten als Offizier in der finnischen Armee. Eine Kontrollbehörde wurde bei einem Personaldokument des Mannes misstrauisch. In einer Befragung gestand der Verdächtige, das Papier verfälscht zu haben. Danach setzte er sich ab.
Neuß schmiedet eine schlüssige Indizienkette: Huberti flüchtete nach dem Meseberg-Mord mit Hilfe eines rechten Netzwerks ins Baltikum, wo ein deutsches Freikorps gemeinsam mit Finnen und Esten gegen die Bolschewiki kämpfte. Er schlüpfte in die Identität seines gefallenen estnischen Kameraden Felix Kersten und wurde unter dessen Namen von Finnland auf Bitten der deutschen Waffenbrüder eingebürgert. Als ihm der Boden zu heiß wurde, kehrte er nach Deutschland zurück. „Einen lückenlosen Beweis, dass Felix Kersten früher Felix Huberti war, gibt es nicht“, räumt Neuß ein, betont aber, dass er sich trotzdem sicher sei.
Leider jedoch recherchiert der Hobby-Historiker nicht immer gründlich, verzettelt sich stattdessen auf Nebenschauplätzen, fügt mitunter Vermutungen zu Fantasiegebilden zusammen und erhebt unbewiesene Vorwürfe.
Plausible Theorie vom doppelten Felix
Die Kersten-war-Huberti-Theorie hat auch Haken. Kersten besuchte 1930 seine angeblichen Eltern im Baltikum und holte 1940 den mittlerweile verwitweten Vater zu sich, wo der Greis zwei Jahre später starb. Gelang es dem Meister der Überzeugungskunst tatsächlich, fremde Eltern für die Mitwirkung in einem solchen Theaterspiel zu gewinnen?
Zudem beschrieb Schriftsteller Ottwalt, der Huberti 1919 kennengelernt, aber sein Buch erst 1929 veröffentlicht hatte, den Leutnant als schlanken Mann mit schmalem energischen Gesicht. Auf einem Foto von 1922 sieht Kersten anders aus. Bilder von Huberti sind leider nicht überliefert.
Doch wer am Ende alles Für und Wider abwägt, stellt fest, dass die Geschichte vom doppelten Felix im Kern plausibel bleibt. Ist sie tatsächlich wahr? Der Kopf sagt: Vielleicht. Das Bauchgefühl antwortet mit einem klaren Ja.
Armin Görtz