Kartei der Gräueltaten: 700 Zwangssterilisationen in Erfurt

Erstveröffentlicht: 
09.08.2016

Das ehemalige Gesundheitsamt Erfurt wird derzeit zu einem Wohnkomplex umgebaut. Während ihrer Arbeit machten die Bauarbeiter eine grausige Entdeckung: In einem Versteck stapeln sich Berge von Akten aus der NS-Zeit.

 

Es handelt sich um den größten Aktenfund, der bisher in den alten Gemäuern der Turniergasse gemacht wurde. „In den letzten 25 Jahren haben wir immer wieder Akten aus dem Amt bekommen. Aber dieser Fund ist elektrisierend“, meint Antje Bauer, Direktorin des Stadtarchivs. Der Großteil der Unterlagen stammt von der Abteilung „Erb- und Rassenpflege“ aus nationalsozialistischen Zeiten. 

 

Daten erfasst bis in die 1950er


Über 60 Jahren verstaubten die Dokumente in dem Hohlraum über der einstigen Kühlzelle für Medikamente und Impfstoffe. „Die Karteien wurden bewusst versteckt, sie wurden regelrecht in das Loch gestopft“, erzählt Annegret Schüle, Kuratorin des Erinnerungsortes Topf und Söhne. Die Aufzeichnungen reichen bis in die 1950er, also noch Jahre über Kriegsende hinaus. Heute lagern die Schriftstücke in 50 Umzugskisten im Erfurter Stadtarchiv und bergen etliche Fälle der Gräueltaten der Nationalsozialisten. – insgesamt zehn laufende Meter Geschichte. 

 

Gesundheitssystem im Dienste der Politik


Um 1933 richteten die NS-Machthaber in allen städtischen Gesundheitsämtern eine Abteilung „Erb- und Rassenpflege“ ein. Ärzte erhoben “Erbkarteien“ der Bürger, um so die Bevölkerung nach erbbiologischen Kriterien zu beurteilen. Diese Daten dienten als Grundpfeiler für unzählige Zwangssterilisationen, Einweisungen und letztendlich dem Massenmord an Kranken und Menschen mit Behinderungen.

 

Das NS-Regime strebte an, den „Volkskörper zu reinigen und die krankhaften Erbanlagen allmählich auszumerzen“. Ab 1934 wurden Frauen zwangssterilisiert, „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Unter den staubbedeckten Karteien aus dem Gesundheitsamt finden sich bislang 700 solch dokumentierter Eingriffe an Erfurter Bürgerinnen.

 

„Jeder, der auch nur daran dachte, sich fortzupflanzen, musste die Abteilung ‚Erb- und Rassenpflege‘ konsultieren“, erzählt Antje Bauer. Amtsärzte untersuchten Heiratswillige, ob der Eheschließung auch kein krankheitsbedingtes Hindernis im Wege stehe. „Nur der gesunde Volksstamm durfte Familie gründen.“ 

 

Erfurt flächendeckend erfasst


Insgesamt stehen bereits 2300 Namen in dem Behördenregister. „Bei der Untersuchung einer Person, wurde die – wie es so hieß – gesamte Sippe gleich mit inspiziert.“ Bauer und Schüle gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der damaligen Bevölkerung in Erfurt erbbiologisch erfasst wurde. Sie wurden auf Erbkrankheiten untersucht und durch einen Fragenkanon intensiv beleuchtet. 

 

Methode der Stigmatisierung

 

Die farbigen Reiter an den Karteikarten sprechen darüber Bände: „Der rote Reiter steht für angeborenen Schwachsinn, Gelb für Schizophrenie.“ Blau verrät, dass der Patient unter manisch-depressiven Stimmungen leiden soll. „Zirkuläres Irresein, nannte man das“, so Bauer. Erblicher Veitstanz beziehungsweise Huntingtonsche Chorea wurde mit dem weißen Reiter gekennzeichnet, erbliche Fallsucht, also Epilepsie, mit einem grünen. Rosa und Braun kennzeichneten blinde und taube Menschen. Auch schwer Alkoholkranke wurden markiert, in Graublau. „Für die Ärzte waren die Reiter ein hilfreiches Arbeitsmittel, heute schildern sie eindrucksvoll deren Arbeitsweise.“ 

 

Akten stehen für Forschung bereit


Die Unmengen an Schriftgut konnten bisher nicht komplett gesichtet werden. Schüle und Bauer hoffen, dass sich Projekte finden, die es sich zur Aufgabe machen, die Daten auszuwerten. Mit der Landeszentrale für politische Bildung und einem Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik stehen sie bereits in Kontakt. „Schon die Stichproben haben gezeigt, dass die Akten neue historische Erkenntnisse zum Handeln der Stadtverwaltung und zum Leidensweg von Erfurter Bürgern zeigen.“ Im Rahmen des anstehenden Thüringer Monitors und der Wanderausstellung „ "erfasst, verfolgt, vernichtet – Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus" will Annegret Schüle in etwa einem halben Jahr eine Zwischenbilanz der Auswertung präsentieren.