Burka-Verbot? Keine religiösen Symbole im öffentlichen Raum? Zu viel Laizismus befördere Islamismus, sagt ein französischer Star-Soziologe. Sein Rezept: Das Land solle multikultureller werden.
Seit den 90er-Jahren forscht Farhad Khosrokhavar über Radikalisierung. Der französisch-iranische Soziologe hat Gefängnisse besucht, Studien in den Vororten gemacht und erklärt in seinem jüngsten Buch namens "Radikalisierung", das gerade auf Deutsch erschienen ist, die Anziehungskraft des Terrors. Khosrokhavar kommt zu dem Schluss, dass das französische Modell der Laizität gescheitert ist, wie er in einem Artikel der "New York Times" erklärt, mit dem er jüngst für Aufsehen gesorgt hat.
Die Welt: Monsieur Khosrokhavar, können Sie uns erklären, wo psychische Krankheit aufhört und Terrorismus beginnt?
Farhad Khosrokhavar: Die Grenzen verfließen, und die Profile vermischen sich. Das ist in dieser Form neu. Vorher waren einzelne solcher Fälle bekannt. Aber das hat eine gewisse Logik, denn die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) versucht, genau dieses Profil anzuziehen: junge, mental gestörte Männer.
Die Welt: Wie macht er das?
Khosrokhavar: Indem die Propaganda im Internet nicht die religiöse Dimension in den Vordergrund stellt, sondern die Heroisierung und die Rache gegenüber einem polytheistischen Westen. Bei al-Qaida stand die religiöse Dimension im Vordergrund. Der IS ist minimalreligiös und was den Islam betrifft nicht sehr rigoros.
Die Welt: Waren die Geheimdienste darauf vorbereitet?
Khosrokhavar: Nein, das ist ein riesiges Problem. In Europa hat man in den 60er- und 70er-Jahren die psychiatrischen Anstalten geschlossen. Es gab damals eine starke Anti-Psychiatrie-Bewegung. Heute ersetzen die Gefängnisse die Psychiatrien. Allein in Frankreich hat ein Drittel der Gefängnisinsassen schwere psychische Störungen. Die Gründe dafür sind auch wirtschaftlich: Ein Krankenhausbett kostet an die 1000, ein Bett im Gefängnis nur 90 Euro am Tag.
Die Welt: In Ihrem Buch "Radikalisierung" beschreiben Sie den Dschihadisten als jemand, der seine Frustration in eine gewalttätige Revolte verkehrt. Aber was sorgt für diesen letzten, fatalen Schritt?
Khosrokhavar: Das sind stark beeinflussbare Menschen, die Wahnvorstellungen entwickeln. Im Gefängnis traf ich einen Mann, der war überzeugt, Mohamed Merah zu sein, der Attentäter von Toulouse. Wenn im Fernsehen von früh bis spät von Terroristen gesprochen wird, identifizieren sie sich ganz leicht mit ihnen. Es gibt also eine Art Schleife, weshalb die Ereignisse im Augenblick so schnell aufeinanderfolgen: Man imitiert sich gegenseitig, das ist mimetischer Terrorismus. Die Amerikaner nennen dieses Phänomen "copycat".
Die Welt: Nach dem Attentat in Nizza haben einige französische Zeitungen und sogar TV-Infosender beschlossen, die Fotos von Terroristen nicht mehr zu veröffentlichen. Ist das der richtige Ansatz?
Khosrokhavar: Ja, weil es in solchen Fällen immer um Glorifizierung geht. Die Tat verhilft ihnen zu Ruhm. Das beste Beispiel dafür ist Andreas Lubitz, der Pilot der Germanwings, weil bei ihm keinerlei Ideologie im Spiel war. Es ist ganz wichtig, diese Fälle regelrecht herunterzuspielen und klar zu sagen: Das sind arme Typen und in keinem Fall richtige Terroristen. Wir müssen zeigen, dass wir sie nicht wertschätzen. Nennen wir sie nicht mehr Terroristen!
Die Welt: Von Krieg zu sprechen, wie das François Hollande und inzwischen auch Angela Merkel tun, ist im Grunde ja auch ein Adelstitel.
Khosrokhavar: Beim Krieg ging es um die Täter vom 13. November, die wirklich organisierte Terroristen waren. Leider versteht Hollande nicht, dass die Verrückten, die jetzt zur Tat schreiten, einer anderen Logik gehorchen und vom IS instrumentalisiert werden.
Die Welt: Was unterscheidet Frankreich und Deutschland in Sachen Terrorismus?
Khosrokhavar: Vier Dinge prägen Frankreich, die anderswo nur sehr abgeschwächt anzutreffen sind: Erstens die große Zahl von Vororten mit hoher Arbeitslosigkeit. Zweitens die postkoloniale Einwanderung, die es in Deutschland nicht gab. Deutschland hat viele Türken, aber die Türkei war keine deutsche Kolonie. Die eine Million Toten im Algerienkrieg haben dagegen bis heute Auswirkungen auf das kollektive Unbewusste in Frankreich. Viele arabischstämmige Menschen haben das Gefühl, nicht geliebt zu werden, immer noch "kolonialisiert" zu sein. Dritter Punkt: Deutschland hat eine andere, sehr viel zurückhaltendere Außenpolitik. Frankreich führt Krieg in Mali, Syrien, im Irak.
Die Welt: Sie selbst sagen, dass der IS vernichtet werden muss. Müsste sich Deutschland nicht aktiver daran beteiligen?
Khosrokhavar: Ja, in jedem Fall, selbst auf die Gefahr hin, dass es dann mehr Attentate im eigenen Land gibt.
Die Welt: Der vierte Unterschied, den Sie noch nicht erwähnt haben, ist die Trennung zwischen Staat und Kirche, die Laizität. Wieso halten Sie das Modell für gescheitert?
Khosrokhavar: Es gibt sehr moderate Formen von Laizität in Frankreich und sehr verbohrte. Laizität heißt ja nichts anderes, als die Eigenheit jedes Bürgers zu respektieren. Niemand hat das Recht, einem anderen seine Weltsicht oder seine religiösen Überzeugungen aufzuzwingen. Aber es gibt hier eine Laizität, die selbst zur Religion geworden, die heilig gesprochen worden ist. Ein Beleg dafür ist die sagenhafte Anzahl der Schleier-Gesetze.
Die Welt: Sie interpretieren das als Machtspiel?
Khosrokhavar: Viele und selbst nicht praktizierende Muslime empfinden das als eine Demütigung. Auch wegen des arabisch-jüdischen Kontextes, weil die Kippa keine Probleme macht, der Schleier schon. Frankreich hat sowohl die größte jüdische als auch die größte muslimische Bevölkerungsgruppe in Europa: fast eine halbe Million Juden und etwa fünf Millionen Muslime.
Die Welt: Die Silvesternacht in Köln hat gezeigt, dass sexuell frustrierte Männer nach Deutschland gekommen sind, die unsere Gesellschaftsregeln nicht beherrschen. Hat sich das französische Modell da in Wahrheit nicht sehr gut bewährt?
Khosrokhavar: Aber in der Silvesternacht ging es doch nicht um Religion, sondern um sexuelle Entladungen und kulturelle Missverständnisse. Laizität heißt, einem Mädchen, das einen Schleier trägt, den Zugang zur staatlichen Schule zu verwehren. Sie darf in Frankreich nicht Polizistin werden, in Großbritannien wohl.
Die Welt: Sie behaupten, dass der Multikulturalismus Großbritanniens dem französischen Modell überlegen ist. Es gibt viele Gründe, warum wir auch diesen als gescheitert bezeichnen können ...
Khosrokhavar: Richtig. Aber es geht mir um einen gelassenen Umgang mit dem Religiösen. Was gar nicht funktioniert, ist ein Monokulturalismus, der das Religiöse verbannen will. Es muss einen Mittelweg zwischen einem ungezügelten Multikulturalismus und einer total restriktiven Laizität geben. Man muss den Schleier zulassen können und trotzdem die sexuelle Aggression unter Strafe stellen dürfen.
Die Welt: Aber es ist doch nicht der restriktive Umgang mit dem Schleier, der dazu führt, dass arabische Männer Frauen anspucken, weil sie einen kurzen Rock tragen ...
Khosrokhavar: Das ist wieder etwas anderes. Der Sonderfall Frankreichs bedeutet auch, dass man entweder im System ist oder außen vor. Es gibt kaum Durchlässigkeit. Das System schützt diejenigen, die drinnen sind, Arbeit haben, und gibt keinerlei Chancen denjenigen, die außen vor sind. Wenn sie solche Probleme wie die Beleidigung von Frauen lösen wollen, helfen keine Gesetze, sondern die Diversifikation der Bezirke. In den Vorstädten häufen sich Arbeitslose, Ausgeschlossene, Salafisten, die dann meinen, ihr Heil in einer Parallelgesellschaft finden zu können.
Die Welt: Fast gebetsmühlenartig sagen wir jetzt, dass der Terror nichts mit dem Islam zu tun habe. Aber es sind Islamisten, die ihn begehen. Niemand hat sich bislang auf Buddha berufen ...
Khosrokhavar: Absolut. Es ist keine zufällige Verbindung. Der Dschihadismus fußt auf einer radikalen, sehr realen Form des Islam. Es gibt Muslime, die sagen: "Es sind keine Muslime, die das tun." Doch. Es sind Muslime. Sie meinen es ernst, so ernst, dass sie bis in den Tod gehen. Aber es handelt sich um eine extremistische Form des Islam, den wir in unseren westlichen Demokratien nicht akzeptieren dürfen.
Die Welt: Was verändert der Terror politisch?
Khosrokhavar: Die größte Gefahr ist der Sieg der Rechtspopulisten. Auch in Deutschland werden sie in naher Zukunft die Fünf-Prozent-Grenze erreichen und in den Bundestag einziehen. Also müssen die Menschen aufgeklärt werden: Die Bedrohung ist nicht so groß, wie wir sie empfinden. In Frankreich sind in den letzten anderthalb Jahren 235 unschuldige Menschen gestorben. Das sind 235 zu viel. Aber es waren nicht Tausende. Nur ist die soziale und seelische Schwächung der Gesellschaft unproportional hoch im Verhältnis zur Gefahr.
Die Welt: Das genau wollen die Terroristen erreichen. Droht der Bürgerkrieg?
Khosrokhavar: Wir sind noch nicht in der Logik des Bürgerkrieges. Aber die Gefahr besteht, dass ein Teil der Gesellschaft zu den Waffen greift und sich von einer Logik der Vendetta, der Blutrache, beherrschen lässt. Deswegen ist die Rolle der Medien so wichtig, die als Aufklärer fungieren und den Menschen die Schlüssel des Verständnisses an die Hand geben müssen.
Die Welt: Welches ist Ihrer Ansicht nach der zentrale Verständnisschlüssel?
Khosrokhavar: Die Menschen müssen sich klarmachen, dass es in modernen Gesellschaften Risiken gibt. Der Dschihadismus wird für die nächsten zehn Jahre eines dieser Risiken sein.
Die Welt: Man muss ihn hinnehmen, so, wie man das Risiko eines Unfalls akzeptiert, wenn man in ein Auto steigt?
Khosrokhavar: Ganz genau. Er ist ein unvermeidliches Risiko, das aber unsere Demokratie nicht infrage stellen darf, weil diese eine viel zu wertvolle Errungenschaft ist.
Von Martina Meister, Paris