Im Dezember 2015 traten wir – das Internationalistische Zentrum – eine Reise durch Griechenland an, die in Eidomeni, Thessaloniki, die Inseln Lesbos und Xios, sowie die Hauptstadt Athen, Halt machte. Vom Standpunkt einer solchen »politischen Solidarität« [1] mit Geflüchteten war es für uns von besonderem Interesse, inwieweit sich Geflüchtete selbst organisieren bzw. ob es gemeinsame Diskussionen, Standpunkte, Projekte und Kämpfe von Geflüchteten und dem sog. antiautoritären Raum [2] gibt. Mithilfe unserer Genoss*innen in Griechenland gelang es uns, in kurzer Zeit tiefe Einblicke in in die Situationen vor Ort zu bekommen.
Fotos dazu auf Flickr hier und hier
Thessaloniki und Eidomeni – Selektion an den Toren Kerneuropas
Über Thessaloniki fuhren wir nach Eidomeni. Von dort aus fuhren wir nach Eidomeni, ein Ort an der mazedonischen Grenze. Von 2014 bis zum Frühjahr 2016 existierte in Eidomeni ein gesonderter Grenzübergang für Menschen auf der Flucht. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs durften allerdings nur Menschen aus Syrien, Afghanistan und Irak die Grenze passieren. Alle Geflüchteten, deren Registrierungsschein nicht auf diese drei Länder ausgestellt war, wurden in Bussen nach Athen transportiert, um dann auf offener Straße aus dem Bus geworfen oder u.a. in ein altes Freiluftstadion gebracht zu werden. Wochenlang harrten viele Menschen dort, häufig durch Polizeigewalt schwer verletzt und ohne ausreichende sanitäre oder ärztliche Versorgung, aus. Amnesty International berichtete bereits im Sommer 2015 über die regelmäßigen Misshandlungen von Geflüchteten an den Grenzen und entlang der Balkanroute, [3] die uns zahlreiche Flüchtende und Aktivist*innen bestätigten.
Das Camp in Eidomeni, das durch NGOs und das UNHCR betrieben wurde, war um ein Vielfaches überbelegt. Verschiedene Berichte gingen von zeitweise mehr als 10.000 Menschen aus, die meist in gewöhnlichen Campingzelten warteten. Als Reaktion auf die erste Räumung im Herbst 2015 wurde in Thessaloniki ein Haus besetzt. Das „Orfanotrofion“ bot zum Zeitpunkt unseres Besuchs 54 Refugees und rund 20 weiteren Personen Platz. Es besitzt eine kollektive Küche, medizinische Versorgung, Lagerräume für Hilfsgüter, einen Versammlungs- und Gemeinschaftsraum und Schlafzimmer. Organisiert wird es in und über tägliche Versammlungen, bei denen jede Person eine Stimme hat und Entscheidungen im Konsens getroffen werden. So soll eine Partizipation für alle gewährleistet werden.
Das Zusammenleben ist jedoch weit entfernt vom oft erwähnten »Ponyhof«. Aufgrund von diversen Konflikten stößt die Selbstorganisierung an manchen Stellen an ihre Grenzen [4]. Dennoch zeigte sich für uns, welches Potential selbstorganisierte Räume haben um kollektive Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.Nicht zuletzt sind es oft die selbstorganisierten, autonomen Projekte –, Küchen und Besetzungen etc. bei denen Menschen auf ihrer Fluchtnach Europa zum ersten Mal menschenwürdig und mit Respekt begegnet wird.
Lesbos – eine kurze Kritik des „reinen Helfens“
Wir reisten weiter auf die Insel Lesbos. Der offizielle erste Anlaufpunkt und verpflichtende Registrierungsstelle für Refugees ist das ca. 10 km nördlich von Mytilini (Hauptstadt von Lesbos) gelegene Camp in Moria, indem auch die UNHCR präsent ist. Was wir bei unserem Besuch hier erlebten, ist der Inbegriff der Ungleichheit zwischen »Fliehenden« und »Helfenden« und »geduldeten« und »unerwünschten« Nationalitäten. EU-Agenturen wie Frontex und Europol sowie die direkt vor Ort stationierten Cops (häufig MAT- Aufstandsbekämpfungseinheiten (Monada Apokatastasis Taxis »Einheit zur Wiederherstellung der Ordnung«)), arbeiten gemeinsam mit NGOs und »freiwilligen Helfer*innen« aus aller Welt zusammen. »Moria« zeigt deutlich die vielfältigen Ebenen, auf denen das europäische Grenzregime aufbaut: Registrierung, Versorgung, Abschiebungen und Absatzmarkt laufen hier an einem Ort zusammen. NGOs und „Volunteers“ handeln dort meist nicht autonom, sondern werden strategisch von Cops für die Selektion und die Ausübung von »soft repression« benutzt (bzw. lassen sich dafür benutzen). In den meisten Fällen geht es um Menschen aus dem Norden Afrikas, die durch die Instruktion der Cops von NGOs und „Volunteers“ im „Hotspot“ aufgetrieben und zusammengebracht werden. So berichtete eine „Volunteer“ von der polizeilichen Anweisung, dass nun „die Tunesier und Marokkaner“ an der Reihe seien (gemeint war die Registrierung), woraufhin die vermeintlichen „Helfer*innen“ die Geflüchteten aufsuchten und in die Registrierungsreihe stellten. Anders als erwartet, wurden die Betroffenen jedoch nicht registriert, um weiter reisen zu können, sondern an Ort und Stelle umstellt und verhaftet.
In diesem Zuge stellt sich die Frage nach den Perspektiven dieser »Hilfsarbeit«. Auf lange Sicht wird „Charity“ keine Strukturen verändern, die Fluchtursachen und Illegalisierungen schaffen. Stattdessen verbleibt das reine »Helfen« in den ungleichen Rollen der »Gebenden« und »Nehmenden«. Auch aus einer postkolonialen Analyse heraus muss das reine »Helfen« – oft von Weißen betrieben – kritisch hinterfragt werden, da es durchaus rassistische Stereotype und Machtverhältnisse reproduziert. Wenn es bei »reiner Hilfe« bleibt, kann der Kreislauf dieses Systems von Abschottung, Abschiebung und Ungleichheit nicht durchbrochen werden. Indem Volunteers dafür sorgen, dass ein Camp wie »Moria« sich einen »humanitären« Anstrich geben kann, schaffen sie einen Deckmantel für die Überwachungs- und Selektionsmechanismen, auf denen das europäische Grenzregime beruht. Doch eine bloße Abwehrhaltung gegenüber Helfenden und NGOs wäre fehl am Platz. Der Wille zu »helfen« zeigt trotz allem, dass es eine grundsätzliche Bereitschaft gibt, sich zu solidarisieren. Es ist verständlich, dass angesichts des staatlichen Unwillens, Menschen angemessen zu versorgen und das Sterben zu beenden, das Bedürfnis entsteht, schnelle Hilfe bereitzustellen. Ob es um Willkommensbündnisse in Deutschland geht oder um »Volunteers« auf den griechischen Inseln, eine gemeinsame Diskussion kann ein Anfang sein, Perspektiven zu entwickeln und Solidarität politisch zu gestalten. Das scheint uns zunächst produktiver, als sich unmittelbar strikt voneinander abzugrenzen.
Fazit und Handlungsmöglichkeiten
Eidomeni wurde mitlerweile komplett geräumt – eine stille Räumung, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, unter einer linken Regierung und innerhalb der Logik eines unsäglichen Deals mit dem türkischen Autokraten Erdogan. Das Ergebnis: die sog. Balkanroute existiert faktisch nicht mehr. Neue Lagersystem mit Camps wie „Fracaport“ nahe Thessaloniki, in denen Menschen unter unfassbaren Bedingungen dahinvegetieren, sind entstanden [7]. Die Inseln in der Ägäis sind von Zwischenstationen auf der Flucht zu Gefängnissen und Rückschiebeeinrichtungen transformiert worden. Europa forciert weiterhin eine offen rassistische Politik und Gesetzgebung und hat sich den Frieden mit erstarkenden rechtspopulistischen Bewegungen durch das Inhaftieren, Foltern, Sterben und Ausgrenzen Tausender Menschen auf der Flucht erkauft. Eine gemeinsame Revolte gegen diese Zustände scheint weit entfernt.
Wir denken, dass ein tieferes Verständnis von dem was „Grenze“ aktuell bedeutet notwendig ist, um eine glokale (lokal und global) Perspektive zu bekommen. Das viel zitierte europäische Grenzregime darf nicht nur als einfache Grenzlinie um Europa verstanden werden. Die Funktion der militarisierten Außengrenzlinien wird durch ganze Grenzräume erweitert, die nicht mehr geographisch an diese Linien gebunden sind. Statt dessen lassen sich überall in Europa nun Räume systematischer Ausgrenzung finden, sei es in Form von Heimen oder Zeltstätten, eines Abschiebetransports oder durch die Regulierung des Zugangs zu medizinischer Versorgung und finanzieller Mittel bzw. Arbeit uvm. Wie im Fall von Muria entstehen ganze Kaskaden von Exklusion und Entrechtung. Die Ausgrenzungsmechanismen können, je nach nationaler Zuordnung, unterschiedliche Konsequenzen für Geflüchtete annehmen – für die einen wird es Asyl geben und für die anderen nicht, wieder andere warten dauerhaft auf einen Bescheid. Ständige Heimaufenthalte, willkürliche Verlegungen und das Tengen vor einer Abschiebung stellt eine enorme psychische Belastung dar. Kurzum: Das, was wir an den Außengrenzen Europas gesehen und gehört haben, setzt sich im Inneren Europas fort. Unternehmungen gegen die Festung und ihre Fans müssen deshalb nicht notwendigerweise an den Außengrenzen passieren.
Als Alternative zu der Aktion an den Außengrenzen haben wir als Internationalistisches Zentrum damit begonnen, uns gemeinsam mit Menschen aus den sog. Magrebstaaten zu organisieren. Aufhänger für eine erste Demonstration ist die angestrebte Erweiterung der sogenannten „sicheren Drittstaaten“ um Marokko, Tunesien und Algerien, die so gut wie jede Chance auf Asyl unmittelbar unterbinden.
Eine Dauermahnwache gegen Abschiebungen ist geplant und eine Telefonkette für den Ernstfall existiert bereits. Zudem soll diskutiert werden, ob und wie
arbeits- und klassenkämpferische Ansätze Teil einer gemeinsamen Strategie sein können, die beispielsweise die nationalistische Trennung einzelner Gruppen von Geflüchteten überwinden könnte. Die Aktionen sollen nun mit Blick auf auf die politischen Mechanismen durch die Prozesse der Ausgrenzung bestärkt bzw. fortgeführt werden ausgebaut werden. Konkret heißt dies Widerstand gegen Ein-Euro-Jobs als sog. Erstintegration zu organisieren und Aktionen für soziale Zentren für alle zu forcieren. Ziel sollte u.a. sein eine solidarische Infrastrukturen aufzubauen, die politische Unsichtbarkeit von Geflüchteten zu beenden und ihre Akzeptanz als politische Subjekte gemeinsam zu erkämpfen.
Und auch auf europäischer Ebene regt sich Widerstand. Aktuell sind wir in die Vorbereitungen des No-Border-Camps im Juli in Thessaloniki involviert. Mit der antiautoritären Plattform gegen Kapitalismus Beyond Europe [8] rufen wir dazu auf das Camp finanziell und logistisch zu unterstützen und natürlich daran teilzunehmen [9,10].
Wir haben unsere Reise dokumentiert und in vielen Texten festgehalten. Falls ihr euch für genauere Schilderungen interessiert, findet ihr diese auf unserer Website:
Artikel erschien im Antifaschistischen-Info-Blatt Nummer 111 Sommer 2016
[2] Der »antiautoritäre Raum« ist eine Eigenbezeichnung der nicht-parlamentarischen Strukturen in Griechenland, die sich horizontal, d. h. mit möglichst geringen Hierarchien organisieren und Parteienpolitik ablehnen. Er umfasst sowohl Einzelpersonen als auch verschiedene feste und lose Gruppen, die sich an anarchistischen und libertär-kommunisitischen Ideen orientieren.
3] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/balkans-refugees-and-migr...
[4] http://iz-dresden.org/?p=33831&lang=de
[5] http://internationalsolidarityfund.blogsport.eu/
[6] http://betterdaysformoria.com
[7] https://fallingborderssite.wordpress.com/2016/06/05/das-camp-fracaport-n...
[9] https://noborder.beyondeurope.net/
[10] http://noborder2016.espivblogs.net/