Die fiktiven Märtyrer der Neuen Rechten

Erstveröffentlicht: 
02.05.2016

Braune Propagandisten wie Manfred Kleine-Hartlage sprechen von 7500 Deutschen, die angeblich von Ausländern ermordet wurden. Die Zahl beruht auf der Milchmädchenrechnung eines rechten Blogs.


Nur mühsam unterdrückte Wut schwingt in Manfred Kleine-Hartlages Stimme mit, als er am 18. November 2012 vorm Reichstag das Wort ergreift. Auf der Wiese vor dem Parlamentsgebäude haben sich einige Dutzend Leute versammelt, um dem neurechten Publizisten zu lauschen. Eingeladen hat sie die islamophobe Partei „Die Freiheit“ des früheren Pressesprechers der Münchner CSU, Michael Stürzenberger. Es soll eine Gedenkveranstaltung sein, nicht ungewöhnlich für den Volkstrauertag, an dem traditionell aller Kriegstoten gedacht wird.

An „Kriegsopfer“ wollen auch Kleine-Hartlage und die Freiheit erinnern. Allerdings seien sie Opfer eines „unerklärten Krieges gegen die Völker Europas“, wie der Redner erklärt, eines „mindestens latenten Bürgerkrieges“, ausgelöst durch die Massenzuwanderung von Menschen aus „gewaltaffinen“ Kulturen.

Kleine-Hartlage berichtet, wie er selbst von einem Nigerianer aus nichtigem Anlass zusammengeschlagen wurde. Im Publikum lauschen prominente Vertreter der Neuen Rechten, Johannes Schüller und Felix Menzel vom rechten Magazin „Blaue Narzisse“, die christliche Fundamentalistin Heidi Mund aus Frankfurt, die als Gründerin des Frankfurter Pegida-Ablegers zweifelhaften Ruhm erlangen sollte. „Die 7500 Deutschen, die seit 1990 Opfer von Migrantengewalt geworden sind“, ereifert sich Kleine-Hartlage, „sind Opfer einer Politik, die es darauf anlegt, die Gesellschaft zu zerstören.“

Statistische Spielerei

7500. Diese Zahl ist an diesem Volkstrauertag 2012 vor dem Reichstag allgegenwärtig. Sie prangt in großen Ziffern am Rednerpult. Für die versammelten Rechten ist sie Fakt – und der Beweis, dass Multikulti-Ideologie und Zuwanderung massenhaft Tote produzieren.

Zu diesem Zeitpunkt kursiert die Zahl von 7500 „von Ausländern ermordeten Deutschen“ seit knapp einem Jahr durch das Netz. Man liest sie in Artikeln auf PI-News, in fast allen Kommentarspalten. 2011 war die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) aufgeflogen. Am 21. November 2011 gedenkt der Bundestag mit einer Trauerminute der NSU-Opfer. Mitte 2012 veröffentlichte der Berliner „Tagesspiegel“ eine Recherche wonach zwischen 1990 und 2012 insgesamt 149 Menschen durch rechtsextreme Gewalt starben. Der rechte Internet-Mob tobt. Der vergleichsweise wenigen Opfer der Rechtsextremen wird gedacht, so der Vorwurf an Politik und Medien. Doch was sind schon knapp 150 tote Ausländer gegen die 7500 toten Deutschen im selben Zeitraum? Warum wird ihrer nicht gedacht?

Die Zahl ist gesetzt. 7500. Doch sie ist falsch, ungeprüft übernommen und weiterverbreitet von unzähligen rechten Blogs und Autoren. Sie basiert auf einer schieren Milchmädchenrechnung des rechten Blogs mit dem bezeichnenden Namen „Eulenfurz“. Der hatte unter Zuhilfenahme einer Statistik über Mord- und Totschlagsopfer die Zahl mehr oder minder per Überschlag berechnet.

21 467 Opfer zeige die Grafik des Anbieters Statista, auf die sich der anonyme Autor berief, für den Zeitraum von 1990 bis 2012. Da bei Mord und Totschlag der Anteil der Ausländer an verurteilten Tätern durchschnittlich 29,35 Prozent betrage, müssten 6300 Tote auf ihr Konto gehen. Dazu musste nach Ansicht des Autors ein Aufschlag für eingebürgerte Migranten kommen, von denen er vermutete, dass „sie genauso morden und verletzen wie ihre Volksgeschwister ohne BRD-Pässe“. So kam der Autor dann auf die Zahl 7500.

Schon die Herangehensweise ist perfide. Der Autor und sein Publikum stellen Zahlen zweier unterschiedlicher Phänomene gegenüber. Auf der einen Seite mehr oder minder gewöhnliche Kriminalität, der die meisten der angeblich 7500 toten Deutschen zum Opfer gefallen sind. Auf der anderen Seite Menschen – und wie die meisten rechten Autoren vergessen: keinesfalls ausschließlich Ausländer –, die starben, weil sie nicht ins Weltbild rechtsextremer Täter passten. Unnötig zu erwähnen, dass wenn man alle von „Bio-Deutschen“ getöteten Ausländer in die Statistik aufnähme, die Anzahl deutlich höher wäre als die 149 Opfer rechtsextremer Gewalt. Doch das würde nicht zum rechten Mythos passen, der besagt, dass deutsche Opfer grundsätzlich „Opfer zweiter Klasse“ seien, benachteiligt durch die Ideologie und Verzerrung des linken Meinungs-Mainstream.

Doch noch nicht einmal die Zahl der deutschen Opfer stimmt. Die Frankfurter Rundschau nahm die Veranstaltung der Freiheit zum Anlass, die Zahl genauer unter die Lupe zu nehmen. Zum einen stellte sich heraus, dass die Datengrundlage falsch war. Die von „Eulenfurz“ benutzte Statistik unterschied nicht zwischen den Opfer vollendeter und nicht vollendeter Tötungsdelikte.

Und gänzlich unbeachtet – wie fast immer wenn rechte Blogs die polizeiliche Kriminalstatistik benutzen – blieb die Tatsache, dass Mord und Totschlag typische Beziehungsdelikte sind. 2014 etwa waren in mehr als der Hälfte der polizeilich registrierten Fälle Täter und Opfer verwandt. In weiteren 25 Prozent der Fälle standen sie in einer informellen Beziehung zueinander. Bis 2013 enthielt die PKS zudem noch die Beziehungskategorie „Landsmann“ für alle Fälle, in den Opfer- und Täter weder verwandt noch näher bekannt waren, aber die gleiche Staatsangehörigkeit hatten.

Auf die Wahrheit wird verzichtet

Auch wenn es keine genaueren Zahlen gibt, legt die Kriminalstatistik nahe, dass vor allem andere Ausländer Opfer von Gewalt durch Ausländer werden. Der Blog „Eulenfurz“ musste sich wenige Tage, nachdem die FR über die Fantasiezahl berichtet hatte, selbst korrigieren – und spricht nun von rund 3000 toten Deutschen, wobei mittlerweile auch die Opfer von Körperverletzung mitherangezogen wurden, um am Ende der eigenen Überschlagsrechnung eine möglichst hohe Zahl zu haben.

Seit Ende 2012 ist die Zahl von 7500 durch Migrantengewalt getöteten Deutschen zwar nicht gänzlich aus der rechten Publizistik verschwunden, doch sie wird sehr viel seltener verwendet. Die Organisatoren der Mahnwache vor dem Reichstag am 18. November 2012 übrigens wussten bereits vorab, dass die Zahl so nicht stimmen kann: Die FR hatte den Vorsitzenden der „Freiheit“, Michael Stürzenberger, mit den Ergebnissen ihrer Recherche konfrontiert. Doch offensichtlich wollte man die eigene „Wahrheit“ nicht kurz vor dem großen Auftritt anpassen müssen.

Die Personen

Michael Stürzenberger (51)

zählt zu den umtriebigsten der sogenannten Islamkritiker in Deutschland. Bis 2011 war er Mitglied der CDU und einige Jahre Pressesprecher der Partei in München, ehe er austrat und sich der islamophoben Kleinpartei „Die Freiheit“ anschloss. Als sein politisches Vorbild nennt Stürzenberger den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders, mit dem er die Überzeugung teilt, dass es sich beim Islam nicht um eine Religion sondern um eine gewalttätige politische Ideologie handelt. Als Konsequenz forderte Stürzenberger im einem Beitrag für das rechtsextreme Portal PI-News, dass in Deutschland lebende Muslime ihrem Glauben abschwören oder ausreisen müssten. Zuletzt trat Stürzenberger auch vor gewaltbereiten Hooligans etwa des „Widerstands Ost-West“ auf.

Manfred Kleine-Hartlage (50)

ist ein Publizist, der der Neuen Rechten um deren Vordenker Götz Kubitschek zugerechnet wird. Zu seinen bekannteren Büchern gehört „Das Dschihad-System“. Kleine-Hartlage sieht wie Stürzenberger im Islam eine auf Expansion ausgelegte, aggressive Ideologie. In der Vergangenheit war er als Autor für rechte Publikationen wie die „Junge Freiheit“, „Sezession“ und PI-News aktiv. Zuletzt veröffentlichte er in dem rechtsextremen Magazin „Zuerst“.

Heidi Mund

ist eine radikale Christin, die sich in einschlägigen evangelikalen Kreisen den Ruf als „mutige Deutsche“ unter anderem dadurch erarbeitet, dass sie 2013 einen interreligiösen Gottesdienst im Dom von Speyer störte. 2015 organisierte sie die Pegida-Demonstrationen in Frankfurt, ehe ihr vom Pegida-Vorstand in Dresden die Zusammenarbeit aufgekündigt wurde. Ihre neue Initiative „Freie Bürger für Deutschland“ verdankt sie angeblich göttlicher Eingabe.

Felix Menzel (30)

ist Gründer der rechten Jugend- und Kulturzeitschrift „Blaue Narzisse“, sowie Betreiber des Portals „Einwanderungskritik“. Auch er gehört zum Umfeld des neu-rechten Instituts für Staatspolitik von Götz Kubitschek. Menzel, der sich positiv auf die neofaschistische Casa-Pound-Bewegung in Italien bezieht, gilt als einer der Ideengeber der rechtsextremen Identitären Bewegung.

Johannes Schüller

ist ebenfalls Autor der „Blauen Narzisse“. 2011 war er Mitbegründer der Berliner Ortsgruppe der Identitären Bewegung. (dmj)