Polizeiforscherin kritisiert das staatliche Vorgehen gegen die Proteste in Frankreich als Strategie der Eskalation
Die Polizei wollte die angekündigten Demonstrationen gegen das Arbeitsgesetz am Donnerstag verbieten. Darf sie das?
Demonstrationsverbote sind durch den von der Regierung verhängten
Ausnahmezustand einfach. Die Versammlungsfreiheit ist seit November
eingeschränkt. Ich finde das gefährlich: Die Proteste gegen das
Arbeitsgesetz werden mit Terrorismus gleichgesetzt. Das bleibt hängen,
trotz der späteren Erlaubnis durch das Innenministerium.
Ist es nicht verständlich, dass die Polizei Ausschreitungen wie am 14. Juni verhindern will?
Die Eskalation vergangene Woche ging von der Polizei aus. Sie griff die
Spitze der Demonstration mit Schockgranaten und Tränengas an. Dadurch
teilte sie die Demonstration. Anschließend kesselte sie Gruppen von
Demonstranten ein und bewarf sie erneut mit Schockgranaten.
Ist der Einsatz von Schockgranaten erlaubt?
Nur für den Fall, dass sich Polizisten aus einer gefährlichen Situation
befreien müssen. Das war nicht der Fall. Außerdem ist es Vorschrift, die
Granaten von unten über den Boden zu rollen. Aber in Paris wurden sie
im hohen Bogen auf die Menschen geworfen. Das ist eine Strategie der
Eskalation.
Was meinen Sie mit »Strategie«?
Es gibt in der linken Tageszeitung »L'Humanité«
ein Interview mit einem Polizeigewerkschafter. Er berichtet von einer
Anordnung durch seinen Vorgesetzten, Straftaten auf Demonstrationen eine
Weile laufen zu lassen, bevor eingeschritten wird. Er sagt, das sei
auch in Paris passiert.
Was sollten Polizei oder Innenministerium damit erreichen wollen?
Ich nehme an, dem Ansehen der Proteste soll Schaden zugefügt werden.
Funktioniert das?
Sicher ist, dass das Arbeitsgesetz weiterhin von über 60 Prozent der
Bevölkerung abgelehnt wird. Dabei gibt es zunehmend Verständnis dafür,
dass Militanz ein Widerstandsmittel unter vielen ist. Viele haben
gesehen: Die Straße muss manchmal frei gekämpft werden. Hätte es am 14.
Juni keinen Widerstand gegen die Polizei gegeben, hätte die
Demonstration nicht laufen können.
Gewalt wird als Mittel des Protestes akzeptiert?
Das Einwerfen von Scheiben nenne ich nicht Gewalt, das ist Sachbeschädigung. Gewalt aber geht von der Polizei aus.
Können Sie Beispiele nennen?
Am 26. Mai wurde in Paris ein 28-jähriger Journalist von einer
Schockgranate am Kopf getroffen. Er brach zusammen und es sammelten sich
Menschen, um ihm zu helfen. Die Polizei bewarf sie mit Tränengas. Da
war der Krankenwagen bereits vor Ort, unübersehbar. Daraufhin erlitt der
Journalist einen epileptischen Anfall. Zum Glück ist er nach zehn Tagen
im Koma wieder aufgewacht.
Wird der erwähnte Vorfall am 26. Mai untersucht?
Die polizeiliche Untersuchung hat am 16. Juni begonnen. Zum Vergleich:
Zehn Festgenommene vom 14. Juni wurden schon vier Tage nach der
Demonstration verurteilt und ins Gefängnis gebracht. Im Gegensatz zu den
Polizisten haben sie niemanden in Lebensgefahr gebracht.
Schauen Sie zu diesem Thema auch »Talk im Transit« mit Mélina Germes: »Tränengas, Fußball und Revolte: Wer gewinnt in Frankreich?«
Sie haben am 14. Juni eine internationale Petition gegen Polizeigewalt gestartet. Was wollen Sie damit erreichen?
Unterstützt wird die Petition unter anderem von der LINKE-Vorsitzenden
Katja Kipping. Wir wollen in erster Linie darüber informieren, was in
Frankreich passiert. In den Medien der Nachbarländer wird darüber kaum
berichtet. Aber dafür gibt es die sozialen Medien. Die Leute sollen dazu
animiert werden, sich selbst zu informieren. Die Situation in der
Polizei ist gefährlich.
Was meinen Sie damit?
Über fünfzig Prozent der Polizisten in Frankreich
die extrem rechte Partei Front National wählen. Mein Eindruck ist
zudem, dass Rechtsextreme in den Einheiten, die auf Einsätze gegen eine
männlich-aggressiv dominierte Protestkultur ausgerichtet sind, sogar in
der Mehrheit sind. Zudem passierte vor wenigen Tagen ein Gesetz
das Parlament, das Polizeibeamten erlaubt, auch außerhalb ihrer
Dienstzeit eine Waffe zu tragen und zu nutzen. Die Polizei könnte in
ihrer Freizeit also funktionieren wie eine Miliz.
Wie werden die Proteste weiter gehen?
Eine Zeitlang wurde befürchtet, dass die Gewerkschaft CGT von ihrer
Rolle in den Mobilisierungen zurücktritt. Das ist bisher nicht der Fall.
Die Sturheit der Regierung fällt ihr auf die Füße. Der Protest geht
weiter.
Steht keine Sommerpause bevor?
Der Sommer reißt immer ein Loch. Die Diskussionen über das Gesetz aber
werden weitergehen. Wir werden sehen, was dann im Herbst passiert. Ich
denke nicht, dass der Widerstand gegen das Gesetz nachlässt. Ich hoffe
nur, dass er bis dahin kein Todesopfer fordern wird.
Mélina Germes analysiert die Polizeistrategie zu den Protesten. Sie arbeitet als Geografin, u.a. am französischen Ministerium für Forschung und Hochschulwesen CNRS. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Polizeiforschung. Mit ihr sprach für das »nd« Elsa Koester.