Ausländerfeindliche Gesinnung - Leipziger Studie: Mitte in Deutschland verliert alle Hemmungen

Erstveröffentlicht: 
15.06.2016

In den beiden vergangenen Jahren hat eine deutliche Polarisierung und Radikalisierung der Gesellschaft in Deutschland stattgefunden. Gleichzeitig nahmen Aggressionen gegen Muslime, Sinti und Roma sowie Flüchtlinge zu. Das ist das Ergebnis der neuen Studie „Die enthemmte Mitte“ der Uni Leipzig, die am Mittwoch in Berlin vorgelegt wurde.

 

In den beiden vergangenen Jahren hat eine deutliche Polarisierung und Radikalisierung der Gesellschaft in Deutschland stattgefunden. Dabei nehmen Aggressionen gegen Muslime, Sinti und Roma sowie Flüchtlinge zu. Das ist das Ergebnis der neuen Studie „Die enthemmte Mitte“ der Uni Leipzig, die gestern in Berlin vorgelegt wurde. Eine Arbeitsgruppe unter Leitung der Sozialpsychologen Elmar Brähler, Oliver Decker und Johannes Kiess kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass Rechtsextreme in Deutschland im Jahre 2016 in der AfD eine Heimat gefunden haben und auch die Pegida-Bewegung stark von rechtsextremistischen Einstellungen geprägt ist.

 

„Es gibt zwar keine Zunahme rechtsextremer Einstellungen, aber im Vergleich zur Studie vor zwei Jahren befürworten Gruppen, die rechtsextrem eingestellt sind, stärker Gewalt als Mittel der Interessensdurchsetzung“, so Decker. Zudem habe bei diesen Gruppen das Vertrauen in gesellschaftspolitische Einrichtungen wie die Polizei oder Parteien deutlich nachgelassen.

 

Unterschiede zwischen Ost und West lassen sich am Thema Ausländerfeindlichkeit festmachen. Während im Altbundesgebiet mit einem höheren Migrantenanteil lediglich 33,5 Prozent der Befragten der Meinung sind, die Bundesrepublik werde durch viele Ausländer in gefährlichem Maße überfremdet, sind es im Osten immerhin 35,2 Prozent. Noch klarer wird es bei der Behauptung: „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“. Dem pflichteten 38,5 Prozent im Osten, aber nur 30,4 Prozent im Westen bei. Zu Thesen „Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen“ verstiegen sich in den neuen Bundesländern 12,2 Prozent, im Altbundesgebiet lediglich 7,3 Prozent. Folgerichtig räumte unter den 14- bis 30-Jährigen und den 31- bis 60-Jährigen im Osten auch beinahe jeder Vierte ein, ausländerfeindlich zu sein. Im Westen war das in der ersten Gruppe nur etwa jeder Siebte und in der zweiten jeder Fünfte.

 

Gleichzeitig verglichen die Autoren die neuen Ergebnisse mit früheren Befragungen. Dabei zeigte sich, dass die gesamtdeutschen Werte für die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur seit 2004 noch nie so hoch lagen. Eine klare Tendenz besteht auch in Bezug auf die vergangene Befragung. Meinten damals noch 43 Prozent „eher“ oder „voll und ganz“, sie fühlten sich durch die vielen Muslime im eigenen Land manchmal wie ein Fremder, waren es in der neue Umfrage die glatte Hälfte. Von einer schweigenden Mehrheit, die den Islam toleriere, könne deshalb keine Rede sein.

 

58,5 Prozent erklärten, Sinti und Roma neigten zur Kriminalität (2014: 55,9 Prozent), 49,6 Prozent forderten deren Verbannung aus den Innenstädten (2014: 47,1 Prozent). Vier von fünf Befragten (80,9 Prozent) forderten, dass der Staat bei der Prüfung von Asylanträgen nicht großzügig ist (2014: 76 Prozent). Erstmals wurde nach Akzeptanz gefragt, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen. 40,1 Prozent fanden das „ekelhaft“. „Die Ablehnung von Muslimen, Sinti und Roma, Asylsuchenden und Homosexuellen hat noch einmal deutlich zugenommen“, konstatierte Brähler.

 

Nach Parteien aufgesplittert präferieren die meisten Befragten mit ausländerfeindlichen Auffassungen die AfD. Und zwar 89 Prozent jener, die meinen, „Sinti und Roma neigten zur Kriminalität“ und fast ebensoviele, die glauben „Die meisten Asylbewerber befürchten nicht wirklich, in ihrem Heimatland verfolgt zu werden“. Wenig Beifall dafür gab es bei den Anhängern von Grünen und Linken.

 

Zwangsläufig gaben 34,9 Prozent der Rechtsextremen an, AfD wählen zu wollen. 2014 waren es noch 6,3 Prozent. Selbst die NPD ließ vor diesem Hintergrund mit 2,7 Prozent (2014: 6,3 Prozent) deutlich Federn. Umgekehrt ist unter den Pegida-Anhängern der Wunsch nach einer einzigen starken Partei enorm gewachsen. Über 87 Prozent plädieren dafür. Alter, Bildungsabschluss und Haushalteinkommen spielten dabei keine Rolle. Vorurteile seien aber auch in der Gruppe der Nichtwähler sehr verbreitet. „Das Potenzial für rechtsextreme oder rechtspopulistische Parteien ist noch größer als es die Wahlergebnisse bislang zeigen“, schloss Brähler.

 

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Monika Lazar bezeichnete die Ergebnisse gestern als alarmierend. Die Bundesregierung müsse wirksame Maßnahmen zum Schutz der besonders von Abwertung betroffenen Gruppen treffen.


Seit 2002 legt die Arbeitsgruppe unter Leitung von Brähler und Decker alle zwei Jahre repräsentative Erhebungen vor. Diese „Mitte“-Studien beschäftigen sich mit rechtsextremen Einstellungen und ihren Entstehungsfaktoren. Zentrale Eckpunkte sind die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und die Verharmlosung des Nationalsozialismus. Für die 2016-Auflage wurden knapp 200 West- und rund 500 Ostdeutsche zwischen 14 und 93 befragt.

 

Roland Herold