War doch Notwehr, oder? Russische Medien und Politiker verteidigen die Prügelorgien der Hooligans. Die Nachrichtenagentur Ria Nowosti findet es sogar toll, "Nichtrussen den Kiefer zu zertrümmern".
Es ist nicht so, dass Russlands Staatsmedien die gewaltsamen Ausschreitungen unter Beteiligung russischer Hooligans in Frankreich unter den Tisch kehren würden. Im Gegenteil, es ist das Top-Thema in vielen Fernsehnachrichten, allerdings ist der Ton ganz anders als im Westen. Der Staatssender Rossija inszenierte russische Problemfans sogar als Opfer der französischen Behörden.
Französische Polizisten hatten vor dem zweiten Gruppenspiel zwischen Russland und der Slowakei am Mittwoch einen Bus mit russischen Anhängern gestoppt. "Russische Fans mussten wegen des Vorgehens der Polizei mehrere Stunden in einem Autobus ausharren, bei unerträglicher Hitze", verkündete die Sprecherin der Rossija-Nachrichten. Mehreren Personen sei schlecht geworden. Dazu blendete der Kanal das Foto eines älteren Herrn in den Sechzigern ein, es hatte auf Twitter die Runde gemacht. "So sehen 'Hooligans' aus", stand sarkastisch daneben.
Mit keiner Silbe erwähnt wurde dagegen, welcher Insasse des Busses das Foto geschossen hatte: Alexander Schprygin, Chef des Dachverbands russischer Fußballfans. Er hat Verbindungen in die Neonazi-Szene und hob früher gern den Arm zum Hitlergruß. Die französischen Behörden vermuten, Schprygin habe eine Rolle gespielt bei den offenbar koordinierten Straßenschlachten mit englischen Fans in Marseille.
Selbst der Wetterbericht drehte sich um den Fan-Bus. Die Meteorologin Jelena Melosjuk wies darauf hin, den Passagieren drohten "ernsthafte gesundheitliche Folgen", Cannes liege schließlich im warmen Süden Frankreichs. Die eingeblendeten Temperaturen passten dann jedoch nicht recht zum dramatischen Timbre ihrer Stimme: 24 Grad Lufttemperatur, 36 Grad im Bus, jeder Pkw im Moskauer Sommerstau heizt sich stärker auf.
Die Gendarmerie habe die Fans in den heißen Bus gepfercht und lasse sie nicht aussteigen, hieß es bei Rossija. In Wahrheit hatte die Polizei die Russen aufgefordert, das Fahrzeug zu verlassen. Die aber wollten auf die Ankunft eines russischen Diplomaten warten.
Verrohung der politischen Auseinandersetzung
Die Berichterstattung über die Europameisterschaft in Frankreich reiht sich in ein bekanntes Muster ein: Ob Dopingskandal oder Berichte über Korruption im Umfeld von Kremlchef Putin, die staatlich gelenkten Medien präsentieren den Russen in der Regel ähnliche Erklärungen: Der Westen hat sich verschworen, Russland steht zu Unrecht am Pranger.
Der Umgang mit den Krawallen passt auch zur Verrohung der politischen Auseinandersetzung in Russland und zu der Tendenz, Gewalt als legitimes Mittel der Auseinandersetzung zu sehen. Während der Krim-Annexion jagte ein prorussischer Mob einen Uno-Diplomaten durch die Straßen von Simferopol, die wenig später in die Ostukraine einrückenden russischen Freischärler werden als Helden verehrt. Auch die Drohungen des russischen Motorradklubs "Nachtwölfe" an die Adresse von Russlands Liberalen ("Nur durch Angst wird die Opposition von ihren Plänen ablassen") ließ der Kreml unkommentiert.
Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Russlands gewaltbereite und gut organisierte Hooligan-Szene sieht im Kreml zwar einen Verbündeten, seit Putin die Krim annektierte und nationalistischere Töne anschlägt. Vor wenigen Jahren aber sahen Ultras in der Regierung einen Gegner.
Die Ausschreitungen während der Europameisterschaft werden verharmlost oder anderen in die Schuhe geschoben: englischen Fans, weil sie die Russen gereizt hätten, oder der französischen Polizei, weil die unfähig sei. Sogar Außenminister Sergej Lawrow schaltete sich ein und nahm die Schläger in Schutz. Er habe "empörende Aufnahmen gesehen, auf denen die russische Fahne mit Füßen getreten wurde und Beleidigungen an die Adresse von Russlands Führung geschrien wurden" - als hätten die russischen Hooligans aus patriotischer Notwehr gar nicht anders gekonnt, als ihre englischen Rivalen auf die Intensivstation zu prügeln.
Kein Grund, sich zu entschuldigen
Die Nachrichtenagentur Ria Nowosti ging noch einen Schritt weiter. Das Unternehmen gehört seit 2014 zur Staatsholding "Russland Heute" gehört und wird von dem Propagandisten Dmitrij Kisseljow geführt, der schon darüber räsonierte, Russland könnte die USA in "radioaktive Asche" verwandeln. Nach den Krawallen von Marseille veröffentlichte Ria Nowosti einen Kommentar, der die Täter nicht nur in Schutz nahm, sondern die Gewalt noch adelte. "Wenn russische Fans andere Fans zusammenschlagen, und die europäische Polizei Angst hat, sich ihnen in den Weg zu stellen, dann empfinde ich wenn schon nicht Stolz auf die Russen, so doch Befriedigung", heißt es in dem Text.
Der Autor des Textes, der Publizist Maxim Kononenko, lobt sogar, ihm gefalle "ein russischer Schläger, der einem anderen, nicht russischen Typen den Kiefer zertrümmert". Kononenko schreibt, er könne nicht verstehen, weshalb Russland die Krawallmacher bei der EM verurteilen solle. Im Gegenteil, sie seien doch eine Art Avantgarde im Kulturkampfs mit dem Westen. Es gebe keinen Grund, sich gegenüber Europa zu entschuldigen: "Soll es doch in der Hölle schmoren, dieses Europa".
Zusammengefasst: Die Ausschreitungen russischer Hooligans bei der EM in Frankreich werden im eigenen Land nicht unter den Teppich gekehrt - im Gegenteil: Politik und Medien verteidigen die Gewalttäter. Die russischen Fans seien von der Polizei und englischen Fans gereizt worden, sie hätten in Notwehr gehandelt, lautet der Tenor der Kommentatoren. Selbst Außenminister Lawrow adelt die Hooligans als tapfere Patrioten, die lediglich auf "Beleidigungen an die Adresse der russischen Regierung" reagiert hätten.