Anschläge: Stummer Rebell

Gefahr für das Datennetz
Erstveröffentlicht: 
06.02.1995

Erstmals in Deutschland schlugen in Frankfurt High-Tech-Terroristen gegen die Kommunikationsgesellschaft zu.

 

Die Täter kamen in der Nacht, irgendwann nach drei Uhr früh. An drei Orten nördlich und östlich des Frankfurter Flughafens, Kilometer voneinander entfernt, wuchteten sie zentnerschwere Betondeckel hoch und kletterten in den Orkus der verkabelten Gesellschaft.

In den Gruben kreuzen sich Telekom-Kabel für Computer- und Datenleitungen mit Kabeln für Telefon- und Fax-Verkehr wie Nervenstränge.

"Vermutlich mit Sägen", so die Polizei, durchtrennten die kundigen Kabel-Killer Kupferstränge und Bündel armdicker Glasfaserleitungen. Insgesamt schnitten sie 4,5 Meter Kabel heraus.


Um fünf Uhr dann am vergangenen Mittwoch, als im Flughafen die Computer angeschaltet wurden, zeigte sich, was die Säger angerichtet hatten: Bildschirme flimmerten nur noch, 13 000 Telefone im Süden Frankfurts, darunter alle Leitungen der Universitätsklinik, waren tot; stumm waren auch viele Außenleitungen der Frankfurter Flughafen AG und jene Glasfaseradern, die den Lufthansa-Buchungscomputer in Kelsterbach mit dem benachbarten Airport verbinden.

"Ein einmaliger Anschlag", stöhnte Telekom-Sprecher Michael Hartmann; die Tat verrate Systemkenntnis und "massive kriminelle Energie".

In einem Schreiben an die Frankfurter Rundschau bekannte sich eine bislang unbekannte Gruppe namens "Keine Verbindung e.V." zu der Untat. Mit der "Aktion", so die vermutlich linksterroristischen Bekenner, hätten sie den Flughafen lahmlegen wollen. Denn der habe eine Funktion "im Rahmen der imperialistischen Weltwirtschaftsordnung".

Mit dem Blackout im Airport trafen die Terroristen die High-Tech-Gesellschaft, wo sie am verwundbarsten ist: Sie demolierten drei von insgesamt mehreren tausend Kabel-Knotenpunkten der Republik, deren exakte Lage und Bedeutung nur wenigen Experten bekannt ist.

Fachkundige Attentäter, warnt der Darmstädter Staatsrechtler Alexander Roßnagel, könnten zentrale Informations- und Kommunikationssysteme lähmen sowie ganze Wirtschaftszweige ins Chaos stürzen - und damit "Katastrophen nationalen Ausmaßes" auslösen.


Kraftwerke und Chemiefabriken, Militär, Polizei und Nachrichtendienste, Banken und Versicherungen, Krankenhäuser und Verwaltungen hängen am Computer. Tausende von Milliarden Mark werden täglich via Datenelektronik umgeschlagen, lebenswichtige Informationen per Kabel lichtschnell durch die Republik und um die Welt geschickt.


Die gigantischen Datenmengen der Wirtschaft lassen sich nach Angaben der Telekom "nicht mehr in Zahlen fassen". Sie laufen in Deutschland durch insgesamt 1,86 Millionen Kilometer verbuddelte Stränge.


Allein 80 000 Kabel-Kilometer umfaßt das besonders leistungsfähige Glasfasernetz. Die Leitungen sind aus Tausenden haardünner Glasfäden gewoben - und entsprechend mühsam zu reparieren: Die Fasern müssen unter einem Mikroskop aufgespleißt und Ader für Ader wieder verschweißt werden.


In den letzten Jahren hat die Telekom ihre Sicherheitsvorkehrungen gegen Kabel-Vandalen verstärkt. Eine spezielle Meldeleitung mit dem sinnreichen Titel "Rebell" zeigt den Technikern sofort jeden Schaden in den Kommunikationsnetzen an.


Doch in Frankfurt blieb "Rebell" stumm: Die sachkundigen Täter hatten auch die Meldeleitung des Warnsystems durchtrennt.


Dennoch blieb es beim Mini-GAU. Bei manchen Unternehmen wie der Software-Vertriebsfirma Bomico lief nichts mehr: Telefon, Fax und elektronischer Briefkasten hingen nutzlos am toten Netz.


Bei der Lufthansa und einigen von der Lufthansa-Logistik abhängigen kleinen Airlines war der Buchungscomputer blockiert. Verkauf von Flugtickets und Bordkartenausgabe erfolgten wie einst per Hand. Trotzdem verspäteten sich die Abflüge lediglich um bis zu einer Viertelstunde.


Alarmiert sind die Behörden gleichwohl. Denn der Anschlag von Frankfurt setzt neue kriminelle Maßstäbe: Erstmals schlugen in Deutschland High-Tech-Terroristen zu.


Gegen das Airport-Attentat muten Attacken der autonomen Szene aus den achtziger Jahren rührend hilflos an. Gruppen wie "Sägende Zellen", "Aktion Heimwerker" oder "Hau weg den Scheiß" hatten damals mehr als 200 Anschläge gegen Einrichtungen der Energieversorger verübt.


Dutzende von Strommasten wurden mit Sprengstoff, Schneidbrennern oder Motorsägen gefällt. Bis zu 70 Meter hohe Stahlgerüste knickten ein, 110 000-Volt-Leitungen rissen - doch Verbraucher und Industrie merkten so gut wie nichts: Fast immer konnten durch Umschaltungen Stromausfälle vermieden werden.


Auch Anschläge von Kernkraftgegnern auf die Bundesbahn sind mit dem Frankfurter Anschlag nicht zu vergleichen. Zuletzt warfen Unbekannte am 26. Januar bei Lüneburg einen Wurfanker auf die Oberleitungen, aus Protest gegen den geplanten Atommülltransport aus dem baden-württembergischen Atomkraftwerk Philippsburg ins Zwischenlager Gorleben. Doch der Zugverkehr Richtung Hamburg wurde nur für ein paar Stunden auf Nebenstrecken abgedrängt.


Was dagegen bei Anschlägen auf Kommunikationsnetze passieren kann, erlebten erstmals die Japaner vor zehn Jahren. Dort durchtrennten damals Terroristen an verschiedenen Orten 30 Computerkabel der Staatsbahn, um gegen deren Privatisierung zu protestieren. In Tokio, Osaka und fünf weiteren Großstädten brach schlagartig der Bahnverkehr zusammen. Zehn Millionen Pendler kamen verspätet oder gar nicht zur Arbeit.


Banken und Geschäfte waren ohne Personal, die Börse von Tokio war lahmgelegt. Die Regierung sprach von dem "bei weitem größten Schaden einer Guerilla-Aktion seit vielen Jahren".


Vergrößert wird die Gefahr durch die rapide technische Entwicklung. Statt Sägen und Bolzenschneidern könnten Terroristen schon bald weit wirksamere Werkzeuge benutzen, warnt der US-Experte Winn Schwartau.


Die Amerikaner haben, für militärische Zwecke, Anlagen entwickelt, die elektromagnetische Impulse von verheerender Macht erzeugen; die Impulse zerstören Programme und Daten ganzer EDV-Zentren in Bruchteilen von Sekunden. "Die Technologie ist da", warnte Schwartau, wehe, sie fällt in die falschen Hände.


Es sei nur eine Frage der Zeit, glaubt die amerikanische Fachzeitschrift Computerworld, bis ein frustrierter Angestellter ein ungeschütztes Rechenzentrum mit einem solchen Impuls "fritiert, indem er Stromstöße in Megawattstärke durch eine Leitung schickt und so Daten zu Digitalbrei verkocht".


Bislang ist für die Amerikaner der Techno-GAU lediglich ein Öko-Problem. In der Börse von New York etwa fiel 1988 für teure 82 Minuten das Computersystem NASDAQ aus, weil sich ein Eichhörnchen ins Hauptstromkabel verbissen hatte.


1990 legte ein Biber mit einem Kabel-Biß den Flughafen von Kansas City für vier Stunden lahm. Und in der Hauptstadt Washington kappte ein Jahr später ein anderer Breitschwanz sämtliche Telefonverbindungen in den Süden der USA. Das Tier hatte sich in das Glasfaserkabel der Telekomfirma MCI genagt.