Das Neonazi-Nest von Zwickau

Erstveröffentlicht: 
27.05.2016

Was wusste ein V-Mann aus Zwickau über den NSU? Erkenntnisse von Sicherheitsbehörden deuten erneut auf eine besondere Nähe von Geheimdienstinformanten zum Terrortrio. Nächste Woche widmet sich der Bundestags-Ausschuss dem neuen Fall.

 

Zwickau, Oktober 1991. Hundert Neonazis greifen ein Flüchtlingsheim an, schlagen auf Bewohner mit Zaunlatten ein, zünden Vorhänge und Betten an. Einer in dem Mob ist ein bulliger Typ mit dem Spitzname „Manole“. Zehn Jahre später sorgt seine Zwickauer Abrissfirma auf Baustellen mehr als einmal für Aufsehen. Die Truppe besteht aus Neonazis, Hooligans, Schlägertypen. Ihr Chef heißt eigentlich Ralf Marschner und ist damals zugleich V-Mann „Primus“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

 

Erkenntnisse aus Sicherheitskreisen machen deutlich, wie nah der V-Mann damals dem direkten Umfeld des „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) war, wie die Frankfurter Rundschau erfuhr. Einer seiner früheren Mitarbeiter glaubt gar, die mutmaßlichen NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zu jener Zeit bei der Arbeit in der Firma gesehen zu haben.

 

Was wusste V-Mann Marschner über die damals gesuchten Neonazis, die in Zwickau wohnten? Zählte er zum Kreis ihrer Unterstützer? Und gingen die Ermittler solchen Hinweisen ausreichend nach? Damit befasst sich ab kommender Woche der zweite NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages.

 

Aufzuklären gibt es weiter viel: Bis heute ist es den Ermittlern etwa nicht gelungen, zu rekonstruieren, wie die Terroristen in den Jahren 2000 und 2001 an die Tatorte ihrer ersten Morde in Nürnberg, München und Hamburg gelangten. Später nutzten sie dafür geliehene Wohnmobile und Fahrräder. Aber wer stellte ihnen davor Fahrzeuge zur Verfügung oder nahm sie vielleicht im Auto mit? Bis heute ist ungeklärt, wie groß das Netzwerk der Helfer war, wie viele etwas wissen und bis heute stillhalten.

 

Ab dem Sommer 2000 wohnten die mutmaßlichen NSU-Mitglieder in der sächsischen 90000-Einwohner-Stadt Zwickau – bis zu ihrer Selbstenttarnung Ende 2011 ohne Probleme. In der Szene dort war V-Mann „Primus“, bis er 2007 die Stadt fluchtartig verließ, lange eine zentrale Figur: Gewalttätig, Inhaber von einschlägigen Läden, in Geschäfte mit verbotener Neonazi-Musik involviert. Er streitet ab, die drei damals gekannt oder gar unterstützt zu haben.

 

Ins Visier der Ermittler geriet Marschner nach 2011 dennoch: Für sein Unternehmen lieh er zur fraglichen Zeit 2001 mehrmals Autos bei einer Firma, die später auch der NSU nutzte. Seine Truppe war damals zudem in München und Nürnberg auf Baustellen eingesetzt – also in den Städten, in denen die Terroristen ihre ersten von zehn Morde begingen.

 

Das Bundeskriminalamt (BKA) befragte 2013 einige der ehemaligen Mitarbeiter. Bis auf einen bestreiten alle, Böhnhardt und Mundlos damals gesehen zu haben. Derjenige, der sich anders erinnert, hat es bei Marschners Firma nicht lange ausgehalten. Ihn störte, was für die anderen kein Problem zu sein schien: Neonazis als Arbeitskollegen. Auf Fotos glaubt er Mundlos und Böhnhardt wiederzuerkennen, aber sehr sicher ist er sich nicht.

 

Eine weitere Spur oder bloß eine Verwechslung? Mehrere Mitarbeiter oder Kunden von Marschner hatten bereits ausgesagt, die beiden Männer oder Zschäpe mit ihm oder im Umfeld seiner Firmen gesehen zu haben. Eindeutig belegen ließ sich das nicht. Zuletzt hatte die „Welt“ unter Berufung auf Zeugenaussagen und Dokumente berichtet, dass Mundlos für Marschner gearbeitet haben soll. Die Bundesanwaltschaft erklärte danach, es gebe bis heute keine Hinweise darauf.

 

Durch ihre Gesinnung wären die NSU-Mitglieder unter den Arbeitern jedenfalls nicht aufgefallen: Es waren polizeibekannte Neonazis dabei, Hooligans, Kampfsportler. Sie stammen aus Zwickau und Chemnitz, die Besetzung wechselte wohl häufig. Zur Weihnachtsfeier gab es schonmal eine CD von Marschners Rechtsrock-Band „Westsachsengesocks“, heißt es. Der V-Mann versorgte die Szene mit seinen Läden nicht nur mit Musik und Kleidung, sondern einige Kameraden nicht zuletzt mit Jobs, bei denen Neonazi-Tätowierungen oder Vorstrafen kein Einstellungshindernis waren.

 

Bevor der NSU nach Zwickau zog, wurden die drei Neonazis Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe zunächst in Chemnitz von ihren Kameraden versteckt. Zwischen den rechten Szenen der beiden Städte bestanden damals wie heute gute Verbindungen – und mittendrin V-Mann „Primus“. Nur ein Beispiel ist die Gruppe mit dem überraschend ehrlichen Namen „Hooligans, Nazis, Rassisten“, die nicht nur rund um Fußballspiele des FC Chemnitz oder des FSV Zwickau mit Brutalität auf sich aufmerksam machte.

 

Marschner kannte diese Leute ebenso wie Mitglieder des inzwischen verbotenen Netzwerks „Blood and Honour“, etwa Thomas S., selbst Informant der Sicherheitsbehörden. Er hat den Ermittlern zufolge in Chemnitz Wohnungen an die drei Untergetauchten vermittelt. Auch André Eminger und dessen Frau waren Marschner keine Unbekannten.

 

Das Ehepaar hielt bis zum Schluss Kontakt zum NSU, sie waren wohl deren engste Vertraute. André Eminger ist heute Angeklagter im NSU-Prozess. Zuletzt war bekannt geworden, dass Marschner gemeinsam mit Emingers späterer Frau 2001 in einer Kneipe eine Schlägerei anfing.

 

Nach der Befragung der Bauarbeiter und Ermittlungen zu den gemieteten Fahrzeugen kommt das BKA zu dem Schluss, dass es keine Hinweise darauf gebe, dass die Autos für die Taten des NSU genutzt wurden. Zum Teil stimmten Verleih- und Tatzeiten nicht überein, aber auch Zeugenaussagen würden dem widersprechen. Die Ermittler gingen auch einem Hinweis nach, demzufolge Zschäpe in einem von Marschners Läden beschäftigt war, aber verwerfen diesen schließlich.

 

Ob Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe das Risiko, auf einer Baustelle oder in einem Laden zu arbeiten, eingegangen wären, ist zumindest fraglich. Finanziell war der NSU zu jener Zeit wahrscheinlich noch nicht besonders gut aufgestellt, aber auch in keiner Notlage: Nach ihrem Abtauchen 1998 waren sie wohl auf Spenden aus der Szene angewiesen. Die ersten Raubüberfälle in den Jahren danach bis einschließlich im Sommer 2001 brachten den Ermittlungen zufolge umgerechnet insgesamt etwa 108 000 Euro ein, die für drei Personen und dreieinhalb Jahre in der Illegalität reichen mussten bis sie erstmals eine Bank ausraubten.

 

Der Untersuchungsausschuss wird sich auch der Frage widmen müssen, wie die Ermittler ihre Erkenntnisse gewichteten und bewerteten. Vertreter der Nebenklage im NSU-Prozess haben immer wieder kritisiert, dass die Bundesanwaltschaft der Frage, welche Informationen über V-Leute über den NSU an Behörden gelangt seien könnten, nicht ausreichend nachgegangen sei. „Wir fordern deshalb den derzeit laufenden Bundestagsuntersuchungsausschuss auf, aufzuklären, welches Wissen über das Trio und den NSU der V-Mann Marschner an das Bundesamt für Verfassungsschutz weitergeleitet hat und warum seine V-Mann-Akten bereits im Jahr 2010, lange vor der fälligen Zeit, vernichtet worden sind“, schrieb eine Gruppe von Anwälten im April in einer Erklärung.

 

Im NSU-Prozess in München hatte die Causa Marschner zuletzt für Streit gesorgt. Nebenklage-Anwälte wollten den Mann als Zeuge laden lassen, das Gericht lehnte ab. Für Kritik sorgt auch, dass ein Teil der Ermittlungsakten zu dem V-Mann und seinen möglichen Kontakten zum NSU für die Vertreter der Opfer und ihrer Angehörigen nicht einsehbar sind.

 

Der Grund: Die Bundesanwaltschaft führt sie in einem separaten Verfahren gegen unbekannt. Derzeit ermittelt die oberste Verfolgungsbehörde außerdem noch gegen neun namentlich bekannte mutmaßliche Unterstützer des NSU.


Ob Marschner als Zeuge im Bundestag aussagen muss, ist ungewiss.

 

Er lebt in der Schweiz. Vielleicht wird nochmals sein früherer V-Mann-Führer erscheinen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit sagte der Beamte mit dem Decknahmen Richard Kaldrack dem ersten NSU-Ausschuss des Bundestages über seinen Spitzel, dass er „eigentlich die einzig wirklich relevante Quelle in dem subkulturellen Bereich in den neuen Bundesländern war“ – obwohl er mitunter relevante Informationen verschwieg.

 

Mehrmals hatte er zu „Primus“ Kontakt als dieser längst „abgeschaltet“ war, wie es in der Sprache der Geheimdienste heißt. Nach einem BKA-Verhör zum NSU und der Enttarnung des Spitzels durch Journalisten telefonierte er etwa mit Marschner. Da habe dieser schließlich „moralische Unterstützung“ gebraucht.