NSU-Morde: Muster hinter den Tatorten?

Erstveröffentlicht: 
31.05.2016

Mehrere Tatorte, an denen der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) Migranten ermordete, sind Gedenkorte für die örtliche Neonazi-Szene. Die Szene verehrt dort im Straßenkampf getötete SA-Männer als sogenannte "Blutzeugen".

 

Halit Yozgat starb im April 2006 durch zwei gezielte Kopfschüsse in der Holländischen Straße 82 in Kassel. Seine Mörder waren vermutlich die Thüringer Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die als "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) insgesamt zehn Menschen ermordet und und dutzende Opfer bei Bombenanschlägen verletzt haben sollen. Yozgats Familie und die anderen Hinterbliebenen stellen sich seitdem die Frage, warum ausgerechnet ihr Angehöriger ermordet wurde.

 

"Der Familie Yozgat geht es nach drei Jahren Prozess schlecht", sagt Rechtsanwalt Thomas Bliwier, der die Angehörigen Halit Yozgats im Münchner NSU-Prozess vertritt. "Die Familie weiß immer noch nicht, warum ihr Sohn Halit Opfer des NSU geworden ist, wer diesen Tatort ausgesucht hat, wer ihren Sohn als Opfer ausgesucht hat. Das ist eine ganz schwere Situation für die Familie, das überhaupt zu ertragen."

 

Messerschmidt war  "Blutzeuge"

 

Eine Erklärung könnte ein Ort sein, der sich nur wenige Meter vom Tatort, dem früheren Internetcafé Yozgats, befindet: Auf dem Hauptfriedhof gegenüber wurde im Jahr 1930 Heinrich Messerschmidt begraben. Er wurde in einer Straßenschlacht mit Kommunisten schwer verletzt und starb an den Folgen. Messerschmidt war wie hunderte andere SA-Männer ein sogenannter "Blutzeuge" der NS-Bewegung. Im Dritten Reich wurden sie als Märtyrer verehrt. Wenige hundert Meter vom Tatort entfernt, befand sich in der NS-Zeit in der Holländischen Str. 10 die Speiseküche der Volkswohlfahrt. Auch ein Lokal der NSDAP-Ortsgruppe war nicht weit entfernt. Beide Einrichtungen wurden in der NS-Zeit nach Messerschmidt benannt. In München wurden die Blutzeugen besonders verehrt. So bahrte das NS-Regime die Toten des Hitler-Putsches von 1923 in eigens errichteten Ehrentempeln am Königsplatz auf. "Die Blutzeugen der NSDAP sind ideologisch für die Neonazi-Szene eine große Grundlage", erklärt Felix Benneckenstein, der die rechte Szene vor einigen Jahren verließ und heute Aussteigewillige berät. "Die Neonazis berufen sich auf die 'Blutzeugen', sie glorifizieren sie, ganze Kameradschaften haben sich nach diesen Blutzeugen benannt."

 

"Die Unterstützerszene soll motiviert werden"

 

Im Münchner Stadtteil Giesing starb SA-Mann Georg Hirschmann 1927 nach einer Straßenschlacht. Die Partei benannte ein SA-Heim in der St.-Martin-Straße nach ihm. Folgt man der Straße nach Osten, stößt man auf die Bad Schachauer Straße. Dort befand sich der Kiosk von Habil Kilic. Den tötete der "Nationalsozialistische Untergrund" am 29. August 2001."Wenn die Morde mit historischen Orten verbunden sind, an denen Blutzeugen gefallen sind, dann kann man davon ausgehen, dass das ein Signal nach innen war", meint der Bremer Kriminalpsychologe Prof. Dietmar Heubrock, der sich intensiv mit Beate Zschäpe und dem NSU-Umfeld beschäftigt. "Die Unterstützerszene soll motiviert werden, weiter zu kämpfen."

 

Liste sämtlicher NS-Blutzeugen


In Dortmund liegt der Ort, an dem ein SA-Mann starb, nur knapp 500 Meter von einem weiteren Tatort des NSU entfernt. Memet Kubasik wurde in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße 190 am 4. April 2006, zwei Tage vor Yozgat, ermordet. Im Dezember 1930 wurde in der Nähe SA-Mann Adolf Höh erschossen. Die örtliche Dortmunder Neonazi-Kameradschaft nannte sich ab 2002 "Sturm 11/Adolf Höh". Im internen "Thiazi-Forum" der rechtsextremen Szene wurde 2005 eine Liste sämtlicher NS-Blutzeugen veröffentlicht, ergänzt durch eine Empfehlung: "Wenn jemand vorhaben sollte, einen Verein, Kameradschaft oder was auch immer zu gründen und einen schönen Ehrennamen sucht, könnte man doch zum Beispiel auf einen in der Kampfzeit gefallenen SA- oder SS-Mann 'zurückgreifen.'"

 

U-Ausschuss will Thema aufgreifen


1998 hatte das die Kölner Kameradschaft bereits in die Tat umgesetzt: Sie nannte sich "Kameradschaft Walter Spangenberg" und erinnerte damit an den SA-Mann, der am heutigen Hansaplatz im Jahr 1933 erschossen wurde. Der Hansaplatz liegt unmittelbar an der Probsteigasse, in der im Januar 2001 in einem iranischen Geschäft eine Bombe explodierte. Der NSU rühmt sich in seinem Bekennervideo des Anschlags, bei dem die Tochter des Geschäftsinhabers schwer verletzt wurde. Der Untersuchungssausschuss, der die NSU-Morde in Nordrhein-Westfalen aufklären soll, will jetzt das Thema Blutzeugen aufgreifen."Interessant ist, sowohl für Dortmund als auch für Köln, dass sich die jeweiligen Kameradschaften nach diesen Blutzeugen benannt haben", sagt Verena Schäffer, die für Bündnis90/Die Grünen im Düsseldorfer NSU-Untersuchungsausschuss sitzt. "Sie haben Heldengedenken für diese Blutzeugen abgehalten und deshalb wäre es eben gut und auch interessant, diese Spur weiter zu verfolgen."

 

Anschläge nahe NSDAP-Gelände

 

Auch die drei Mordanschläge des NSU in Nürnberg in den Jahren 2000, 2001 und 2005 fanden in der Nähe eines für Neonazis bedeutenden Ortes statt – dem NSDAP-Reichsparteitagsgelände.Beteiligte des NSU-Prozesses wie Nebenkläger-Anwalt Thomas Bliwier sind überzeugt, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nicht allein die Anschlagsorte ausgekundschaftet haben können: "Ich bin überzeugt davon, dass es in allen Taten des NSU vielleicht mit Ausnahme der Tötung von Frau Kiesewetter lokale Neonazi-Unterstützer gegeben haben muss", meint Thomas Bliwier.Dann wären die Opfer der rassistischen Morde keine zufälligen Ziele gewesen, sondern von Helfern vor Ort nach einem Muster ausgesucht worden: Bewusst gewählte Tatorte in der Nähe von NS-Gedenkorten, die in der örtlichen Neonazi-Szene bekannt waren.