Knapp ein Jahrzehnt lang stand Karl Schreiner an der Spitze des Landgerichtes Leipzig, zuvor war er in dem Gebäude an der Harkortstraße schon Vizepräsident und seit Mai 2000 Richter. Am 1. April geht der 65-Jährige in den Ruhestand. Im LVZ-Interview spricht er über Motivationskiller, Personalmangel und die elektronische Akte.
Einer Ihrer Vorgänger hat das Landgericht mit einem Tanker verglichen. Er lasse sich nicht so flexibel steuern wie ein Boot ...
... je größer ein Gericht ist, desto mehr Probleme gibt es. Bei Krankheiten kann der Personalausfall aber hier besser kompensiert werden als bei einem kleineren Gericht. Fallen dort Leute aus, steht manches still. Es hat alles seine zwei Seiten.
Was hätten Sie gern geschafft, bevor sie von Bord gehen?
Eines meiner wichtigsten Ziele war, das Landgericht in einem Gebäude zusammenzuführen. Doch noch immer befinden sich die Kammer für Handelssachen, zwei Zivilkammern sowie die Referendar-Abteilung in einem anderen Gebäude, im Amtsgericht in der Bernhard-Göring-Straße. Ich weiß nicht, ob dieses Ziel jemals erreicht werden kann.
Dabei hieß es schon vor zehn Jahren, das Landgericht erhalte räumlichen Zuwachs, wenn der unmittelbare Nachbar, die Staatsanwaltschaft, in einen Neubau zieht?
Richtig, nun soll in absehbarer Zeit mit dem Neubau der Staatsanwaltschaft in der Südvorstadt begonnen werden. Allerdings gibt es noch keine Entscheidung darüber, wer dann tatsächlich die Nachnutzer des jetzigen Gebäudes der Staatsanwaltschaft in der Straße des 17. Juni sein werden.
Welche Ziele meinten Sie noch?
Leider ist es auch nicht gelungen, das Landgericht deutlich zu verjüngen. Was glauben Sie, wie alt inzwischen der jüngste Richter ist?
Ich bin häufig Prozessbeobachter. Deshalb tippe ich auf 45 Jahre.
46. Die Altersstruktur ist ein generelles Problem in der sächsischen Justiz. Überhaupt in den neuen Ländern, da vor 25 Jahren eine Vielzahl frisch examinierter Juristen auf einen Schlag eingestellt wurde. In wenigen Jahren werden ebendiese Leute fast zeitgleich aus dem Dienst ausscheiden. Frischer Wind, der Elan und die Energie junger Kollegen fehlen bereits. Bekommen wir einen Assessor, ist er nach einem bis anderthalb Jahren auch schon wieder weg. Nach dem Personalentwicklungskonzept des Justizministers werden junge Richter nach ihrer Probezeit zu Staatsanwälten ernannt.
Wie viel Personal fehlt dem Landgericht?
Nach dem Personalbedarfsberechnungssystem sind wir gut besetzt. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Das System unterstellt, dass beispielsweise eine große Strafkammer pro Jahr 60 Verfahren erledigen muss. Doch in Städten wie Leipzig oder Dresden ist das schlicht unmöglich, weil es überproportional viele schwierige und langandauernde Verfahren zur Organisierten Kriminalität und zur Drogenkriminalität gibt. Auch Wirtschaftsstrafverfahren etwa zur Sachsen LB sprengen jegliche Personalbedarfsberechnungen.
Und welche Berechnung wäre realistisch?
Wenn eine große Strafkammer in einer Großstadt 40 Verfahren schafft, ist das schon viel. Um Wirtschaftsstrafsachen zügig zu bearbeiten, bräuchten wir hier allein zwei zusätzliche Richter. Auch in den Geschäftsstellen ist die Personaldecke dünn. Und die Zivilrichter fühlen sich mehr als ausgelastet. Ich möchte da nur die Klageflut von Geldanlegern nach dem Zusammenbruch der Unternehmen West-AG oder Infinus erwähnen. Allein zu Infinus sind derzeit 676 Klagen von Anlegern anhängig.
Sind Änderungen absehbar?
Zwar gab es 2014 bundesweit einevon Unternehmensberatern durchgeführte Erhebung in der Justiz, deren Ergebnisse noch in neue Konzepte der Landesjustizverwaltungen einfließen sollen. Ich glaube aber nicht an schnelle und große Veränderungen. Im Hinblick auf den Generationenwechsel hat die sächsische Justiz gerade angefangen, mehr Kollegen einzusetzen, was erfreulich ist. Sie verstärken jedoch vor allem die Verwaltungsgerichte. Grund sind die erwartet höheren Zahlen von Klagen abgelehnter Asylbewerber.
Zurück zum Tanker. Es gibt noch Sand im Getriebe, sagten Sie, als der Vergleichsring zwischen den sechs Landgerichten in Sachsen lief. Dessen Ziel war herauszufinden, wo Stärken und Schwächen etwa bei Verfahrensdauer, Sicherheitskontrollen, Kommunikation liegen. Ist noch Sand da?
Der Vergleich hat ergeben, dass alle sechs Landgerichte ziemlich nah beieinander liegen. Es gab bei allen recht ordentliche Ergebnisse. In weiten Bereichen wird gut gearbeitet. Ich glaube, die Kundschaft des Landgerichts Leipzig kann mit uns recht zufrieden sein. Die Strafkammern arbeiten ihre Verfahren relativ zügig ab. Und gerade Rechtsanwälte aus den alten Bundesländern sind erstaunt darüber, wie schnell bei uns in Zivilverfahren terminiert wird.
Demnach wurden Ihre Erwartungen an den Vergleichsring erfüllt?
Leider fiel die wichtigste Phase – der Meinungs- und Erfahrungsaustausch in Workshops – zeitlich mit der Einführung von Forum-Star, dem neuen Justiz-EDV-Programm, bei den Zivilkammern zusammen. In meinen 40 Jahren im Beruf habe ich keinen größeren Motivationskiller erlebt. Anfangs dauerten selbst einfachste Vorgänge mehrere Minuten, das Programm stürzte ständig ab. Wir hatten EDV-Ausfälle, die mehr als einen Tag dauerten. Und als das Programm dann 2012 in der Strafabteilung eingeführt wurde, zeigte sich, dass Forum-Star dafür weitgehend unbrauchbar ist. Die Software musste für Landgerichte erst angepasst werden. Das Programm ist von der Anlage und der Struktur her technisch veraltet, der Entwicklerverbund kommt nicht hinterher. Jetzt, 2016, läuft es im Zivilbereich ganz gut, im Strafbereich einigermaßen. Wegen der vielen Probleme arbeiten aber einige Richter noch immer mit Word, dem Textverarbeitungsprogramm.
Da scheint selbst im Computerzeitalter die elektronische Akte ein Zukunftstraum zu bleiben. Es werden Papierordner angelegt wie anno dunnemals.
Vielleicht war man zu euphorisch, was die Möglichkeit elektronischer Datenverarbeitung angeht. Es ist ja nicht nur eine Frage der Beschleunigung von Verfahren und der Vermeidung von Papier. Die Daten müssen ja auch geschützt werden. Zudem würde die flächendeckende Einführung der elektronischen Akte eine Mega-Investition an Rechnerkapazitäten voraussetzen.
Der elektronische Rechtsverkehr wurde aber doch bereits 2012 am Landgericht Leipzig gestartet.
Ja, so können seither alle Anwälte ihre Schriftsätze in elektronischer Form einreichen. Diese drucken wir dann aus, legen sie der Papierakte bei. Doch leider können wir im Gegenzug noch keine Schriftsätze an Anwälte versenden. Dazu laufen gerade Pilotprojekte in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen.
Der furchtbare Übergriff eines Angeklagten auf eine Zeugin am Dresdner Landgericht, der 2009 tödlich endete, hatte in der Justiz eine Sicherheitsdebatte ausgelöst. Die Zahl der Kontrollen wurde seither erhöht, bei der Waffensuche helfen seit Oktober 2013 auch private Sicherheitsdienste. Hat sich das System bewährt?
Es bietet ein Mehr an Sicherheit. Doch nicht rund um die Uhr. Am Landgericht wird weitgehend jeden Tag kontrolliert. Allerdings reicht das Personal nicht, um dies auch an den Amtsgerichten in den Kreisen und an den Fachgerichten zu tun. Zum Glück gab es in Sachsen seit 2009 nicht so schwerwiegende Fälle. Andernorts schon. 2012 erschoss ein Angeklagter im Dachauer Amtsgericht einen 31 Jahre alten Staatsanwalt. Und 2014 wurden bei einer Schießerei am Frankfurter Gerichtsgebäude zwei Männer getötet.
Sie waren gut 40 Jahre im Beruf, anfangs Staatsanwalt, dann Mitarbeiter im Justizministerium in Baden-Württemberg, schließlich Richter, Amtsgerichtsdirektor, dann Landgerichtschef. Freuen Sie sich auf den 1. April?
Ja, wirklich. Ich freue mich auf den neuen Abschnitt. Und ich werde auch gleich mein Ehrenamt antreten: als juristischer Berater der Gutachtenstelle für Arzthaftungssachsen der Landesärztekammer in Dresden. Denn seit 1992 habe ich mich – mit Unterbrechungen – als Richter auch immer wieder mit ärztlichen Kunstfehlern sowie Schmerzensgeld und Schadenersatz befasst.
Von Sabine Kreuz