Die Scherben sind zusammengekehrt, doch die Spuren der Verwüstung sind nicht zu übersehen. Wo vorher Schaufenster waren, müssen jetzt grobe Spanplatten als notdürftige Abdichtung herhalten. Es dauerte Minuten, um einen ganzen Straßenzug in Scherben zu legen. Bis sich der Leipziger Szenekiez Connewitz von diesem Angriff erholt, wird es weitaus länger dauern.
Es ist der 11. Januar, Montag abends kurz vor halb acht. Ein Mob aus 250 Neonazis biegt aus einer Seitenstraße in die Wolfgang-Heinze-Straße ein, es ist die Lebensader des linksalternativen Stadtteils zwischen Connewitzer Kreuz und dem autonomen Jugend-Kulturzentrum „Conne Island". Die Altbaufassaden beheimaten viele kleine Lokale und Geschäfte, einen eigenwilligen Mix aus alteingesessenen Händlern, jungen Kreativen, kleinen Imbissläden und linken Kneipen. Normalerweise geht es hier äußerst lebendig zu. Nicht aber an diesem Abend. Viele Connewitzer hat es in die Innenstadt gezogen, um gegen die 3000 Anhänger des islamfeindlichen Legida-Bündnisses zu protestieren.
Die Vermummten haben gerade den „Fischladen" und das „Könich Heinz" erreicht, als sie auf Kommando zuschlagen. Sie skandieren „Hooligans, Hooligans", zertrümmern Schaufenster mit Äxten und Gullideckeln, greifen wahllos Passanten an und feuern Pyrotechnik ab. Eine Dachgeschosswohnung geht in Flammen auf, mehr als 20 Geschäfte und Kneipen verwandeln sich in ein Trümmerfeld, ehe die Schläger der Polizei in die Arme laufen, die gleich um die Ecke eine Dienststelle hat. Noch am Abend spricht Polizeisprecher Andreas Loepki von einem Angriff befreundeter Hooligans des 1. FC Lok Leipzig und Halleschen FC. Aber schnell wird klar, dass es nur am Rande um Fußball ging.
Dass der augenscheinlich bestens geplante Gewaltsturm ausgerechnet vor dem „Fischladen" und dem „Könich Heinz" losbrach, sei sicher kein Zufall gewesen, meint Adam Bednarsky. Er ist Geschäftsführer von Roter Stern Leipzig. Der „Fischladen" ist die Vereinskneipe, das „Könich Heinz" der Hauptsponsor des Fußballvereins, der sich der antirassistischen Arbeit verschrieben hat. In Leipzig und dem Umland gibt es da viel zu tun. Immer wieder geraten lokale Vereine wegen rechter Umtriebe in die Schlagzeilen. So rekrutiert sich ein Teil der Fanszene des fünftklassigen 1. FC Lok Leipzig aus einem bizarren Milieu von Hooligans, Kampfsportlern und braunen Kameraden. Die unheilige Allianz eint ein gemeinsames Feindbild: der Rote Stern und seine linken Anhänger. „Das sind gut organisierte Neonazis, die sich auch über den Fußball kennen", sagt Adam Bednarsky über die Angreifer.
Für Neonazis ist der Leipziger Fußball von jeher ein attraktives Betätigungsfeld. Bei der Neugründung des 1. FC Lok 2003 saß ein aktives NPD-Mitglied mit am Tisch, das fortan lange Jahre den einträglichen Fanartikelverkauf des Vereins organisierte. Die Fangruppierung „Blue Caps LE", die sich an der Ultrà-Bewegung orientierte, stand ebenfalls unter dem Einfluss eines braunen Parteikaders. Auch bei „Scenario Lok" sammelte sich Problem-Klientel. Längst hat der Verein glaubhaft mit dieser Vergangenheit aufgeräumt. Die Gruppierungen sind heute verboten, viele Protagonisten haben Stadionverbot. Das hindert sie allerdings nicht daran, sich weiter zum 1. FC Lok zu bekennen—wie am Abend des Überfalls in Connewitz. „Es waren keine Lok-Fans!", bemühte sich dagegen die Vereinsführung unmittelbar nach dem Angriff klarzustellen. Dass der Klub noch immer mit den rechten Schlägern in Verbindung gebracht wird, ist das braune Erbe früherer Versäumnisse in der Vereinspolitik.
Die perfide Planung und die Brutalität des Angriffs hat selbst Insider überrascht. „Connewitz galt ja immer als eine Art heiliger Gral", sagt einer, der die ebenso schlagkräftige wie braune Lok-Szene von innen kennt. „So was Großes hätte ich nicht erwartet." Die Angreifer hätten freiwillig auf die Teilnahme an der Legida-Kundgebung verzichtet, um genau in diesem Moment in Connewitz aufzutauchen und „generalstabsmäßig" loszuschlagen. „Das ist schon krass." Der Szenekenner ist überzeugt, dass die aktuelle politische Debatte um Flüchtlinge, Kriminalität und Terror die Neonazi-Hools zu neuen gewalttätigen Aktionen antreibt. Das deckt sich mit der Beobachtung der Leipziger Antifa, die in den vergangenen Monaten immer mehr Angriffe auf linke Aktivisten, Wohnungen und Projekte zählte.
Das bleibt nicht ohne Gegenwehr, wie auch die Ultras der BSG Chemie Leipzig beweisen. Seit Jahrzehnten pflegen die Fans von Chemie und dem 1. FC Lok eine legendenträchtige Rivalität. Die Anhänger der BSG Chemie, die heute in der sechsten Liga spielt, galten schon zu DDR-Zeiten als renitent. Seit den späten 90er Jahren hat sich um den Verein eine alternative Fankultur entwickelt, die maßgeblich durch die „Diablos" geprägt wird. Innerhalb der Ultrà-Bewegung findet die Szene viel Beachtung—nicht nur wegen kreativer Choreografien und eindrucksvoller Pyroshows. Mussten die „Diablos" noch vor einigen Jahren gegen rechte Lok-Schläger häufig zurückstecken, hat sich die nachwachsende Ultrà-Generation inzwischen Respekt verschafft. „Bei Chemie hat sich etwas geändert", sagt der Lok-Insider. „Das sind nicht mehr solche Weicheier wie früher."
Die Chemie-Ultras kommen aus demselben Milieu wie die Fans von Roter Stern. Viele „Diablos" wohnen in Connewitz und den angrenzenden Stadtteilen, trinken abends ihr Bier im „Könich Heinz" und feiern im „Conne Island" die Nächte durch. Wer sich in Connewitz in linken Projekten engagiert, findet sich schnell in der Fankurve wieder. Wer regelmäßig zu Chemie geht, knüpft früher oder später auch Kontakte in die alternative Szene. Fußball und Politik mögen für jeden einen unterschiedlichen Stellenwert haben—ohne das eine aber ist das andere kaum denkbar.
Die politische Feindschaft überschattet die ohnehin schon verschärfte Rivalität zwischen Lok und Chemie. In beiden Fanlagern gibt es Stimmen, die sich ernsthaft wundern, dass es bislang noch keinen Toten zu beklagen gab. Schon einmal drohte die Lage zu eskalieren: Als im Dezember 2007 gut 50 bewaffnete Vermummte eine Weihnachtsfeier der „Diablos" überfielen, war das der Auftakt zu einer Reihe gewalttätiger rechter Angriffe auf die Chemie-Ultras. Zu dieser Zeit hatten sich viele Leipziger Fußballfans längst in die innere Emigration verabschiedet. 2009 ging ein neuer Verein an den Start, der den Leipzigern einen Ausweg aus der chronischen Unterklassigkeit wies und noch dazu die tiefen Gräben zwischen Lok und Chemie zu überwinden versprach: das vom Brausekonzern Red Bull gesponserte Projekt RB Leipzig. Im Schatten der mit Millionen beflügelten Bundesliga-Hoffnung heißt es noch immer: Rechts gegen Links, Lok gegen Chemie und Roter Stern.
Die Leipziger Polizei rechnet 60 Lok-Fans „Kategorie C" zu. Sie gelten als gewaltsuchend. Weitere 200 fallen als gewaltbereit unter die „Kategorie B". Bei der BSG Chemie sind es 20 gewaltsuchende und 80 gewaltbereite Fans. Die szenekundigen Beamten hätten in der zurückliegenden Zeit in keinem der Lager eine wachsende Gewaltbereitschaft ausgemacht, erklärt Polizeisprecher Uwe Voigt, der aber auch einräumt, dass längst nicht jeder Zwischenfall zur Anzeige gebracht wird.
Entsprechend anders hört sich das in Fankreisen an. „Die Gewaltspirale dreht sich weiter", sagt ein aktiver Chemie-Fan. Persönliche Drohungen, gegenseitiges Auflauern und „Hausbesuche" seien an der Tagesordnung. Im äußersten Fall läuft es wie im vergangenen Dezember bei dem ehemaligen Legida-Anführer Silvio Rösler, dem die Antifa im vergangenen Dezember die Wohnung verwüstete. Der Angriff in Connewitz sei womöglich eine Vergeltungsaktion gewesen, sagt der Chemie-Fan. „Die Nazi-Strukturen in Leipzig sind in den letzten Jahren wesentlich schwächer geworden. Umso überraschender war der Angriff und seine Intensität für mich."
Das Ausmaß der Brutalität dürfte zumindest für die jüngeren „Diablos" neu sein. Bei Chemie gebe es eine neue Generation, die die früheren Überfälle nicht miterlebt habe, sagt der Fan, der genau weiß, dass die Gegenseite selbst vor dem Einsatz von Waffen wie Schreckschusspistolen nicht zurückschreckt. Das bestätigt auch der Kenner des Neonazi- und Hooligan-Umfeldes des 1. FC Lok: „Die Szene ist brutaler, krasser und skrupelloser."
Was das bedeutet, haben jetzt die Connewitzer zu spüren bekommen. Der Leipzig Historiker Sascha Lange sprach angesichts der Ereignisse des 11. Januar vom massivsten Überfall durch Neonazis auf Geschäfte und Wohnhäuser in der Stadt seit dem Novemberpogrom 1938. Auch Roter-Stern-Chef Adam Bednarsky fühlt sich zurück in die Vergangenheit versetzt. „Das gesellschaftliche Klima ist ähnlich wie in den frühen 90er Jahren. Damals gab es eine sehr aktive, brutale Neonazi-Szene. Das gipfelte in den Brandanschlägen von Solingen und Mölln." Selbst im schon damals alternativ geprägten Connewitz gab es immer wieder gewalttätige Übergriffe. Seither aber gilt der Stadtteil im Leipziger Süden als Rückzugsort für linke und grüne Lebensentwürfe.
Nun ist die Verunsicherung im Kiez groß. Viele Anwohner sehen in diesen Tagen genau hin, wer da durch die Straßen zieht. Linke Gruppen haben dazu aufgerufen, Informationen über die Angreifer zusammenzutragen. Den staatlichen Ermittlern jedoch schlägt großes Misstrauen entgegen. Schließlich hatte der sächsische Verfassungsschutz zuletzt vornehmlich vor linken Gewalttätern gewarnt. Und die Polizei muss sich seit Monaten die Vorwürfe gefallen lassen, dass ein Maulwurf in den eigenen Reihen die rechte Szene mit sensiblen Informationen über Neonazi-Gegner versorgt.
Dafür hat der Gewaltexzess den Zusammenhalt der Connewitzer gestärkt. „Die Kneipen sind wieder gut gefüllt", sagt Adam Bednarsky. Auch die vom Roten Stern initiierte Spendenaktion ist gut angelaufen. In der ersten Woche kamen 30.000 Euro zusammen—allerdings reicht das noch lange nicht, den immensen Sachschaden abzudecken, der am 11. Januar entstanden ist. „Die Solidarität innerhalb Leipzigs und zwischen verschiedenen linken Projekten ist überwältigend", sagt Adam Bednarsky. „Connewitz wird daraus gestärkt hervorgehen."
Bastian Pauly ist freier Journalist in Berlin, folgt ihm auf Twitter: @BastianPauly