Überleben im Versteck

Erstveröffentlicht: 
04.01.2016
Neue LVZ-Serie „Stille Helden“ über verfolgte Juden und ihre Retter – heute: die Familie Leopold Von Steffen Held

 

Leipzig. Durch die Wannsee-Konferenz der Nationalsozialisten im Januar 1942 verschlimmerte sich die systematische Ermordung von Juden weiter. Es gab aber auch Menschen, die ihren Mitbürgern beim Überleben halfen. Es ist nicht bekannt, wie viele Juden in Leipzig während des Nationalsozialismus – im Zeitraum zwischen Januar 1942 und dem Ende des Zweiten Weltkrieges – durch die Solidarität, durch couragiertes Handeln von nichtjüdischen Bürgern vor der Deportation in ein Todeslager bewahrt und damit gerettet wurden. Die Geschichte der Geretteten und ihrer Retter, den „Stillen Helden“, besteht vor allem aus einzelnen Schicksalen. Nur wenige schriftliche Quellen teilen Einzelheiten mit. Die Retter zeigten außergewöhnlichen Mut. Sie retteten Menschen und leisteten Widerstand gegen die Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Regimes. Eine mehrteilige LVZ-Serie geht in loser Folge Einzelfällen nach: Sie beginnt mit der Familie Leopold.

 

Als am 1. September 1942 etwa440 Juden mitgeteilt wurde, dass sie am 19. September 1942 „zum Arbeitseinsatz“ nach Theresienstadt gebracht werden sollten, wusste Dr. Walter Leopold bereits davon. Er war Angestellter der Bezirksstelle Sachsen-Thüringen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und zuständig für das Einziehen der Mitgliedsbeiträge. Sein Arbeitsplatz befand sich in der Walter-Blümel-Straße 10 (heute Löhrstraße), dem Gemeindehaus der Jüdischen Religionsgemeinde. Auf der Transportliste standen sein Name und die Namen seiner Frau Hilda und der fünfjährigen Tochter Anneliese sowie der Schwiegermutter Therese Blümlein. Schon einmal, am 13. Juli 1942, sollte die Familie deportiert werden. Doch Leopold gelang die Streichung der Namen aus der Transportliste. Auch jetzt hoffte er auf einen ähnlichen Ausweg, aber der Versuch scheiterte.

 

Das Ehepaar war fest entschlossen, sich nicht deportieren zu lassen. Durch Vermittlung von nichtjüdischen Bekannten wurde ein Kontakt zum Katholiken Georg Jünemann hergestellt. Jünemann war Direktor der 4. Katholischen Volksschule in der Treitschkestraße (heute Hans-Oster-Straße) in Gohlis und in der katholischen PfarrgemeindeSt. Georg aktiv. Als die Nationalsozialisten 1938 sämtliche katholischen Volksschulen in Leipzig schlossen, wurde Jünemann zwangspensioniert. Gemeinsam mit seinen Töchtern Maria und Josephine und deren dreijährigem Sohn lebte er in einer Wohnung in der dritten Etage des Hauses Jägerstraße 15. Maria Jünemann war Lehrerin und Josephine Zauzich hatte Musik studiert und gab privat Klavierunterricht.

 

„Nach einem herzzerrreißenden Abschied von der kranken, zu einem derart schwierigen Unternehmen nicht mehr fähigen Schwiegermutter“ suchten die Leopolds am 17. September 1942 bei Tageslicht Jünemanns Wohnung auf. Jünemann gab sie gegenüber den anderen Hausbewohnern als Verwandte mit Familienamen Freiherr aus, die in ihrer Heimatstadt ausgebombt worden seien und sich vorübergehend in Leipzig aufhielten. Die Leopolds versteckten sich nicht, sondern verließen sogar hin und wieder die Wohnung. Jüdische Freunde verbreiteten in Leipzig, die Leopolds seien geflohen und hätten die Schweiz erreicht.

 

Die Gestapo fahndete erfolglos nach den drei Personen, nahm vielleicht eine geglückte Flucht in die Schweiz an. Aber am 11. November 1942 wurden sechs Leipziger Juden verhaftet: sechs Verhaftungen für drei Untergetauchte – ein Strafexempel zur Abschreckung für Nachahmer. Die sechs Geiseln wurden in Auschwitz ermordet.

 

Die Leopolds konnten nur eine bestimmte Zeit in der Wohnung in der Jägerstraße bleiben, dann musste eine neue Bleibe gefunden werden. Für einige Zeit kamen sie in der Wohnung des Handelsvertreters Herbert Forneist in der Kaiser-Wilhelm-Straße 13 (heute August-Bebel-Straße) in Connewitz unter. Von Forneist erhielt Leopold einen Blanko-Wehrpass, in den er den Namen Kurt Freiherr eintrug.

 

Anschließend nahm die Familie Erich und Ilse Lauche die ihnen unbekannten Leopolds in ihrer Wohnung in der Bayrischen Straße 59 auf. Wieder wurde gegenüber den Hausbewohnern die Legende verbreitet, es handele sich um ausgebombte Verwandte aus Mannheim. Als das Wohnhaus beim Luftangriff am4. Dezember 1943 zerstört wurde, meldete sich Walter Leopold unter Vorlage des gefälschten Wehrpasses bei den Behörden und beantragte Ersatzdokumente. Im Sommer 1944 bewarb er sich als Verwaltungsmitarbeiter beim Landratsamt in Bludenz in Vorarlberg und erhielt die Stelle. Die Familie zog nach Österreich und blieb dort bis zur Befreiung. 1950 wanderten die Leopolds in die USA aus. Im September 2006 wurde Georg Jünemann posthum und seiner Tochter Josephine Hünerfeld der israelische Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ verliehen.