"Der Islam in der extremen Form des IS spielte für sie keine Rolle"

Erstveröffentlicht: 
27.12.2015

Die britische Wissenschafterin Lydia Wilson hat im Irak zum Tode verurteilte IS-Kämpfer interviewt und psychologische Tests mit ihnen durchgeführt. Im Interview berichtet sie über die Ergebnisse

 

Mit Kämpfern des "Islamischen Staats" (IS) über die Motive ihrer Taten zu sprechen ist kein leichtes Unterfangen. Die britische Wissenschafterin Lydia Wilson hat im Irak drei zum Tode verurteilte Vertreter einer lokalen IS-Gruppe interviewt. Das Ziel: Die Forscherin wollte mehr über die Psychologie der Terroristen wissen. Da das Sample sehr klein war, hat Wilson keinen wissenschaftlichen Text über die Tiefeninterviews verfasst, sondern in dem US-Magazin "The Nation" über ihre Erfahrungen berichtet. Im Gespräch mit dem STANDARD erzählt sie, wieso der Islam nicht der wichtigste Beweggrund für die Befragten war, sich am Kampf des IS zu beteiligen, warum der IS so stark rekrutiert und was seinen Kampf von dem von Al-Kaida unterscheidet.

 

STANDARD: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Interviews mit zum Tode verurteilten IS-Terroristen zu machen?

 

Wilson: Ich untersuche seit vielen Jahren Konflikte aus anthropologischer und psychologischer Sicht. Ich mache sehr viel Feldforschung, bei der ich mit internationalen Kollegen aus verschiedenen Disziplinen zusammenarbeite. Unsere Hauptfragen sind, wann, wie und warum Menschen wie eben auch die Kämpfer des Islamischen Staates ihr wertvollstes Gut, ihr Leben, hergeben.

 

STANDARD: Wie haben Sie Ihre Interviewpartner gefunden?

 

Wilson: Ich bin vor fünf Jahren zum ersten Mal in den Irak gekommen, wo ich zunächst Kämpfer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) interviewte. Danach war ich längere Zeit im Libanon und kehrte 2013 wieder in den Irak zurück, als dort der "Islamische Staat" begann, sich als solcher zu bezeichnen, und es sehr heftige Kämpfe gab. Die Kontakte zu Kurden und irakischen Sicherheitskräften waren schnell hergestellt. IS-Kämpfer für meine Interviews zu finden war ungleich schwieriger. Ich hatte es auch vorgezogen, meinen Kopf zwischen den Schultern zu behalten.

 

Viele IS-Kämpfer wurden außerdem im Kampf getötet. Vonseiten der Kurden hörten wir, dass Festnahmen auch nicht erwünscht waren, weil viele verletzte IS-Kämpfer eine versteckte Sprengladung am Körper hatten. Es wurden also nicht sehr viele von ihnen gefangen genommen. Mit denen, die gefasst wurden, wurde auch nicht zimperlich umgegangen, wie wir hörten. Ein Peschmerga erzählte uns, wie fünf IS-Kämpfer gefangen genommen und nach kurzer Befragung durch Kopfschuss hingerichtet worden seien.

 

Im März 2015 erfuhr ich, dass in Kirkuk die kurdische Polizei Aktionen gegen den IS durchführte, bei denen Kämpfer auch festgenommen wurden. Über einen lokalen Polizeichef wurde mir und meinem Kollegen erlaubt, die Interviews zu machen. Wir fuhren dann nach Kirkuk, wo die Festgenommenen vom Gefängnis zur Polizeistation gebracht wurden. In Handschellen, begleitet von vielen Polizisten.

 

STANDARD: Wer waren die IS-Kämpfer?

 

Wilson: Es handelte sich um drei sunnitisch-arabische Iraker, 21, 26 und 27 Jahre alt. Sie waren Teil einer lokalen Terrorzelle. Einer kam direkt aus Kirkuk, die anderen beiden zogen in ihrer Kindheit hierher. Der jüngste war Analphabet, die anderen hatten drei und sechs Jahre lang die Grundschule besucht.

 

STANDARD: Wofür wurden sie verurteilt?

 

Wilson: Sie waren für viele Autobombenanschläge in Kirkuk verantwortlich, bei denen es eine sehr hohe Opferzahl gab. Sie haben die Bomben auf Marktplätzen gezündet, um möglichst viele Menschen zu töten. Einer von ihnen war auch an der Ermordung eines Polizisten beteiligt.

 

STANDARD: Haben Sie mitbekommen, wie viele IS-Kämpfer in irakischen Gefängnissen waren?

 

Wilson: Nur sehr wenige werden lebendig gefasst. Viele sprengen sich in die Luft, bevor sie festgenommen werden, auch um den Schaden zu maximieren. Wenn sie gefasst werden, werden sie im Irak nach dem Terrorgesetz verurteilt, was in den meisten Fällen die Todesstrafe bedeutet.

 

STANDARD: Alle drei Befragten wurden zum Tode verurteilt?

 

Wilson: Zwei schon, einer bekam 15 Jahre Gefängnis.

 

STANDARD: Was haben Sie die Gefangenen gefragt?

 

Wilson: Wir haben einen psychologischen Test mit ihnen gemacht, den wir auch schon in anderen Ländern durchgeführt haben. Damit wollten wir herausfinden, was ihre wirklich wichtigsten Werte sind, die ihnen heilig sind. Wir testeten auch, wie sie ihre eigene Gruppe der arabischen Sunniten wahrnehmen im Vergleich zu anderen, die ihr Leben bestimmt haben. Wir haben von ihnen nicht erwartet, dass sie uns erzählen, dass sie die größten Fans des IS sind oder die größten Hasser der USA. Hier hätten sie sicher vorbereitete Antworten für uns gehabt. Wir haben sie eher mit ungewöhnlichen Fragen konfrontiert, die sie vielleicht noch nie zuvor in ihrem Leben gefragt wurden. Ihnen über diesen psychologischen Ansatz zu begegnen war ein guter Weg, damit sie sich uns öffneten und mehr von sich herausließen.

 

STANDARD: Welche Antworten kamen da?

 

Wilson: Wir hatten ihnen zur Einstimmung Karten gezeigt, auf denen mehrere Bodybuilder zu sehen waren, vom ganz schwachen bis zum stärksten. Darauf war auch die Flagge des IS. Wir fragten sie nach ihrer Einschätzung der Stärke des IS. Der Jüngste zeigte auf das Bild mit dem schwächsten Mann, wohl um so zu tun, als ob er kein Unterstützer des "Islamischen Staates" sei. Dann legten wir ihnen die Bilder mit einer kurdischen Fahne vor: Hier zeigte er auf den zweitstärksten. Bei den irakischen Sicherheitskräften zeigte er auf das mittlere, der Iran wurde ein wenig schwächer bewertet, und die USA wurden als die Stärksten eingeschätzt.

 

STANDARD: Was waren Ihre wesentlichen Erkenntnisse? Warum kämpfen diese jungen Leute für den IS?

 

Wilson: Bei den Gesprächen hat sich gezeigt, dass die Befragten zum Großteil nicht wirklich die extremen Ansichten vertraten, die von der IS-Propaganda verbreitet werden. Sie wussten nicht einmal die Hälfte davon. Sie kannten beispielsweise nicht die Geschichte und die Hintergründe des Kalifats. Sie wussten auch nichts über den Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi, ihren vermeintlichen Anführer. Sie sagten zwar, dass sie unter der Scharia leben wollten, wussten aber auf Nachfrage nicht, wie ein solches Leben im Detail aussehen sollte. Sie reagierten sehr verwirrt und konnten auch nicht wirklich erklären, was der Jihad für sie bedeutete.

 

STANDARD: Sie waren also nicht wirklich mit dem Islam vertraut?

 

Wilson: All diese Begriffe, die der IS sehr oft verwendet und die von außen als starker ideologischer Rahmen angesehen werden, wurden von diesen jungen Kämpfern zum Großteil einfach nicht verstanden. Das heißt nicht, dass sie sich dem Islam nicht verpflichtet fühlten, das taten sie sehr wohl. Auf die Frage, was Islam für ihn bedeutet, sagte einer: "Mein Leben." Der Islam spielte für sie also schon eine Rolle, aber nicht in der extremen Form, wie es die Führer des "Islamischen Staates" verlangen. Hier ging es nicht darum, in den Himmel, in das Paradies zu kommen.

 

STANDARD: Was hat sie dann angetrieben?

 

Wilson: Sehr viel klarer war, dass diese Kämpfer überzeugt waren, für ihr Land, für ihre Familie und ihre Würde zu kämpfen. Allen gemeinsam war ein tiefer Hass auf die USA und ihre eigene Regierung im Irak. Sie fühlten sich sehr diskriminiert und in ihrer politischen Vertretung nicht repräsentiert. Seit Al-Kaida im Irak ausgelöscht wurde, gab es niemanden, der ihnen anbot, für sie zu kämpfen. Bis der IS kam. Der IS gab ihnen die Gelegenheit, ihre Identität zu verteidigen und stolz darauf zu sein, Sunnit zu sein. Es ging ihnen aber auch um profanere Gründe wie Geld. Einer von ihnen stammte aus einer Familie mit 17 Geschwistern. Er gab an, aufgrund einer Rückenverletzung arbeitsunfähig geworden zu sein. Das Geld, das ihm der IS bot, war also sehr willkommen.

 

Es gab aber auch dieses verbindende Element des Hasses auf die USA. Aber nicht im ideologischen Sinn des IS, wie er beispielsweise über Social Media verbreitet wird. Hier ging es sehr viel mehr um persönliche Erfahrungen. Aus Sicht der Befragten wurde ihnen von den Amerikanern ihre Kindheit und Jugend weggenommen, und somit konnten sie auch kein normales Leben führen. Einer der Verurteilten sagte zu uns: "Sie haben Saddam beseitigt, aber auch unsere Sicherheit. Ich war kein Anhänger Saddams, weil wir unter ihm Hunger litten, aber wir hatten zumindest keinen Krieg. Als die Amerikaner kamen, hat der Bürgerkrieg begonnen."

 

STANDARD: Also ist einer der Hauptgründe der lokalen Kämpfer die Rache an den USA?

 

Wilson: Nicht wirklich Rache, weil die Amerikaner auch nicht mehr vor Ort sind. Es geht eher darum, dass sie glauben, dass sie von den Amerikanern und den Schiiten ihrer sunnitischen Identität beraubt wurden. Unter der US-Besatzung wurden sehr viele Sunniten inhaftiert. Ihre Kinder wuchsen vaterlos, ohne Identifikationsfigur auf.

 

STANDARD: Was fühlten Sie, als Sie die Terroristen interviewten?

 

Wilson: Das Gefühl, das ich am stärksten empfand, war Traurigkeit. Ich saß sehr jungen Männern gegenüber, die wie junge Buben aussahen, die in großen Schwierigkeiten steckten. Sie waren sehr dünn. Sie kamen in das Zimmer und richteten ihre Augen konstant auf den Boden. Sie machten sich so klein wie nur möglich. Als sie dann während des Gesprächs mehr aufmachten, hatten sie ganz normale minimale Bedürfnisse. Sie wollten ihre Kinder und ihre Familien sehen. Wenn sie über ihre Beteiligung am Kampf und ihre Zeit im Gefängnis sprachen, zeigten sie normale menschliche Reaktionen.

 

STANDARD: Können Sie ein Beispiel nennen?

 

Wilson: Der 26-Jährige war verheiratet und hatte zwei Kinder, einen Sohn namens Rasuul und eine Tochter namens Rusil. Wir legten ihm Karten vor, mit denen wir testeten, wie sehr er sich einer bestimmten Gruppe nahefühlte. Darauf waren Kreise gezeichnet, die auf einer Karte sehr weit voneinander entfernt waren, und solche, die mehr und mehr überlappend waren. Bei der Frage nach seiner Verbindung zum IS zeigte er auf die Karte mit der geringsten Verknüpfung. Er hatte uns vorher auch schon erzählt, dass das Leben unter dem "Islamischen Staat" die Hölle gewesen sei und er nur kämpfte, weil er von ihnen terrorisiert worden sei. Diese Antwort hatte er aber schon in den Befragungen der Polizei gegeben, sie war also eher erwartbar. Was für ihn unerwartet kam, waren die Fragen nach seiner Familie, nach dem Irak und dem Islam. Ohne lange nachzudenken, zeigte er bei "Familie" sofort auf die Karten mit den überlappenden Kreisen. Er sagte: "Mein größter Wunsch ist, bei meiner Familie, meinen Kindern zu sein." Bei "Irak" und "Islam" wählte er die aus, wo es nur eine teilweise Überschneidung gab.

 

STANDARD: Gibt es Ihrer Erfahrung nach einen Unterschied zwischen irakischen IS-Kämpfern und denen aus dem Ausland?

 

Wilson: Ja, da gibt es einen riesigen Unterschied. Und man kann auch die ausländischen Kämpfer nicht einfach in einen Topf werfen. Ich würde sagen, dass die meisten von ihnen nicht dieselben Gründe haben wie die irakischen Kämpfer, denen es um ihr eigenes Land geht. Die IS-Kämpfer aus dem Ausland teilen grundsätzlich sehr viel stärker die IS-Ideologie, aber auch nicht immer. Hier liegt auch der große Unterschied zu Al-Kaida. Diese hat bei der Aufnahme neuer Mitglieder ein ideologisches Training verlangt, ehe ihnen erlaubt wurde, sich am Kampf zu beteiligen. Man musste diesen ideologischen Background mitbringen. Der IS verlangt das überhaupt nicht. Er verlangt zunächst nur die ultimative Identifikation. Hier erfolgt die Indoktrinierung erst, wenn man schon am Kampf beteiligt ist. Das ist der große Unterschied, der bedeutet, dass der IS eine viel größere Zahl an Menschen anspricht.

 

Wir sehen unter den ausländischen Kämpfern viele unterschiedliche Gründe, sich dem IS anzuschließen. Vor allem unter den Frauen gibt es vermehrt die Motivation, die dekadente westliche Gesellschaft zu verlassen und sich einer Bewegung anzuschließen, die sie als spirituell reiner empfinden. Dann gibt es jene, die die extreme Auslegung des Islam anspricht, und jene, denen das Abenteuer oder der Ruhm eines Krieges eine Identität und Gemeinschaft bietet, die sie in der westlichen Gesellschaft nicht finden, weil sie hier vielleicht auch mit Islamophobie konfrontiert sind. Es gibt also eine sehr große Bandbreite an Gründen.

 

STANDARD: Was erhoffen Sie sich durch Ihre Interviews?

 

Wilson: Meine Kollegen und ich versuchen mit den Gesprächen noch viel mehr darüber herauszufinden, wer diese Menschen sind, die sich dem IS anschließen, und warum sie tun, was sie tun. Wir wollen den Leuten, die die Macht haben, hier für Veränderung zu sorgen, eine Grundlage geben, um viel besser einordnen zu können, warum es zu gewissen Handlungsweisen kommt. In den Medien und von Politikern werden IS-Kämpfer als das namenlose, gesichtslose Böse beschrieben. Aber diese Pauschalisierung trifft nicht den Kern der Sache. Menschen haben Namen und Gesichter. Jeder Mensch hat eine Geschichte. Manche von ihnen mögen sehr böse sein. Um im Kampf gegen den "Islamischen Staat" Lösungen zu finden, müssen wir jedoch analysieren, wie sie zu diesen Bestien geworden sind. Ich hoffe, dass ich mit meiner Arbeit einen Beitrag zur Schwächung des IS leisten kann. (Rainer Schüller, 27.12.2015)

 

Lydia Wilson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for the Resolution of Intractable Conflict in Oxford und von Artis, Center for Conflict Studies and Field Research. Sie promovierte in mittelalterlicher arabischer Philosophie in Cambridge, ihre Feldforschung betrieb sie bisher vor allem im Irak und dem Libanon.