Starker Hang zur Selbstjustiz

Erstveröffentlicht: 
04.12.2015
Staatsanwaltschaft will vorbestraften NPD-Stadtrat hinter Gitter bringen – Landgericht belässt es bei Bewährungsstrafe
VON FRANK DöRING

 

Leipzig. Seine Entschuldigung hielt sogar die Staatsanwaltschaft für echt: NPD-Stadtrat Enrico Böhm (33) muss nach der Attacke auf eine Radfahrerin in Altlindenau nicht in den Knast. Die 9. Strafkammer des Landgerichts hob am Donnerstag das Urteil aus erster Instanz auf und verurteilte den stadtbekannten Rechtsextremen wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, ausgesetzt zur Bewährung. Damit entsprach das Gericht exakt der Forderung der Verteidigung. Die Staatsanwaltschaft wollte Böhm hingegen für zehn Monate hinter Gitter schicken.

 

Am Amtsgericht war der NPD-Kader im Mai dieses Jahres wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Beleidigung zu acht Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt worden. Sowohl Verteidigung als auch Staatsanwaltschaft waren dagegen in Berufung gegangen. Böhm wird vorgeworfen, am 25. April 2014 in der Gemeindeamtsstraße einer Radfahrerin (29) gegen den Oberkörper getreten und sie als „Zeckenschlampe“ bezeichnet zu haben. Während er in erster Instanz noch schwieg, gestand er die Attacke im Berufungsprozess. Er sei damals als Stadtratskandidat der NPD „erheblichen Überfällen“ ausgesetzt gewesen und habe unter extremem psychischen Druck gestanden. Als Unbekannte in der Nähe des früheren NPD-Zentrums in der Odermannstraße die Scheibe eines Audi einwarfen, bezog Audi-Fahrer Böhm dies auf sich. Die auf dem Weg zum Einkauf zufällig vorbeiradelnde Frau habe er „mit dem Anschlag in Verbindung gebracht“, so Böhm.

 

Offenbar trat der Angeklagte mit einer Kampfsporttechnik zu, erinnerte sich die Frau vor Gericht, „ich war perplex“. Sie konnte noch wegfahren und erstattete auf dem Rückweg Anzeige. Nach anfänglichem Zögern nahm sie gestern die persönliche Entschuldigung Böhms an. Er war während des Prozesses aufgestanden und hatte der Frau 500 Euro als Entschädigung überreicht. „Mir tut es wahnsinnig leid“, sagte er, „es war ein Blackout.“

 

Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hat Böhm solche „Blackouts“ ein bisschen zu oft. An seiner Vita lasse sich ein starker Hang zur Selbstjustiz ablesen, so der Sitzungsvertreter der Behörde. Seit 2007 habe Böhm zwölf Vorstrafen gesammelt. Zur Tatzeit stand er unter laufender Bewährung – wegen einer Schlägerei 2008.

 

Doch im Unterschied zur Anklage hielt der Vorsitzende Richter Klaus Kühlborn lediglich die Körperverletzung für erwiesen. Dass der Angeklagte sein Opfer zudem als „Zeckenschlampe“ beleidigt haben soll, sei zwar sehr wahrscheinlich, aber nicht unzweifelhaft. Auch der dritte Anklagepunkt – eine versuchte Nötigung – spielte für das Urteil letztlich keine Rolle. Wie berichtet, soll Böhm im Gespräch mit einer Telefonistin des Jobcenters den Rückruf einer Sachbearbeiterin gefordert haben, andernfalls werde die Frau „den Kopf unter dem Arm tragen“. Allerdings hatte ihn bereits das Amtsgericht in dem Punkt freigesprochen.

 

Den Angriff auf die Radfahrerin bezeichnete der Richter als „moralisch verwerflich“. Eine solche Attacke, sagte er, hätte auch weniger glimpflich verlaufen können. Die Frau erlitt ein Hämatom. Außerdem, so die Zeugin, sei ihr Grundvertrauen, zunächst keinem Menschen etwas Schlechtes zuzutrauen, seit diesem Tag erschüttert.

 

Böhms Geständnis habe für das Urteil Relevanz, so das Gericht, auch wenn die Beweislage klar ist. „Und er hat sich in erheblicher Form entschuldigt“, erklärte Kühlborn. Der Richter bescheinigte dem Vater eines siebenjährigen Kindes zudem eine positive Sozialprognose. Hinsichtlich der einschlägigen kriminellen Vergangenheit Böhms vermochte das Gericht im Laufe der Jahre eine nachlassende Intensität der Straftaten zu erkennen. Auch der Vorfall, wegen dem Böhm unter laufender Bewährung stand, sei mittlerweile sieben Jahre her.

 

Für die Staatsanwaltschaft ist das Urteil des Landgerichts wohl ein ziemlicher Schlag ins Kontor. Zumal die Behörde darauf verwies, dass gegen den NPD-Stadtrat derzeit weitere vier Anklagen erstinstanzlich anhängig sind. Für das Gericht spielte dieser Umstand aber keine Rolle – es gelte die Unschuldsvermutung, hieß es. Die Staatsanwaltschaft prüft nach Informationen der LVZ, gegen das Urteil Revision einzulegen.