Schlugen die IS-Terroristen in Paris zu, um von den Rückschlägen in ihrem „Kalifat“ abzulenken?
Drei Mal hat der „Islamische Staat“ (IS) innert kurzer Zeit zugeschlagen: Am 31. Oktober brachte er im Sinai einen russischen Ferienflieger zum Absturz, am 12. November starben bei einem Anschlag auf einen Markt in Beirut 43 Menschen – und jetzt Paris.
Man könnte zusätzlich auch Anschläge am 13. November in Bagdad erwähnen: Bei zwei IS-Selbstmordattentaten starben dort 21 und 15 Menschen. Doch Terror in Bagdad ist derart häufig, dass er kaum mehr zur Kenntnis genommen wird.
Fern vom "Kalifat"
Bisher führte der „Islamische Staat“ Attentate durch, um das Gebiet seines „Kalifats“ zu verteidigen oder auszudehnen. Jetzt zum ersten Mal sind Zivilisten ausserhalb der Kampfzone des IS, fern vom "Kalifat", Ziel von Anschlägen.
Solche Attentate erinnern an al-Qaeda und 9/11. Auch in Bagdad liess Abū Musʿab az-Zarqāwī, der damalige Chef des irakischen Arms von al-Qaeda, zahlreiche Attentate gegen die amerikanischen Besatzer durchführen. Eigentlich war Zarqāwī ein Vorgänger des heutigen „Kalifen“ al-Bagdadi. Ziel war es, den innerirakischen Krieg zwischen Sunniten und Schiiten anzufachen – ein überaus grausamer und blutiger Krieg, der in den Jahren 2007 und 2008 tobte.
Die Gesellschaft spalten
Anschläge auf Zivilisten, wie jetzt in Paris, haben nicht zum Ziel, das Territorium des „Islamischen Staats“ auszudehnen oder zu verteidigen. Es geht darum, Risse in der Gesellschaft zu vertiefen. Ziel ist es, durch eine Spaltung der Bevölkerung einen inneren Krieg anzufachen.
Im Irak ist dies Zarqāwī gelungen. Der innerirakische Krieg zwischen Sunniten und Schiiten ist bis heute nicht überwunden. In Russland, in Libanon und jetzt in Frankreich strebt der IS offenbar Vergleichbares an.
Zerbrechender Staat
In Libanon besteht die Gefahr, dass dies gelingen könnte. Mit jedem Attentat nehmen die Spannungen zwischen der schiitischen Hizbullah einerseits und den libanesischen Sunniten und Christen anderseits zu.
Die Gefahr besteht, dass der kaum mehr funktionierende Staat Libanon zerbricht und zur Arena von Kämpfen zwischen Sunniten und Schiiten wird. Die beiden Parteien sind derart verbitterte Gegner, dass sie Parlament und Regierung lahmlegen. Seit Jahren kann man sich nicht einigen, einen libanesischen Präsidenten zu wählen.
Risse in der Gesellschaft vertiefen
Natürlich sind weder Russland noch Frankreich in der gleichen Lage. Doch Risse in der Gesellschaft gibt es auch dort. Diese versuchen jetzt die Terroristen des IS zu vertiefen.
In Frankreich gibt es diese Risse einerseits zwischen den Muslimen, die eingewandert sind – oder deren Väter, die schon eingewandert waren – und anderseits den Franzosen „de souche“.
Muslime gegen Moskau aufhetzen
In Russland gibt es die Tschetschenen und andere Muslime, die gegen Moskau kämpfen – und von der russischen Armee besiegt worden sind. Doch der Konflikt schwelt im Untergrund weiter, befriedet und assimiliert sind die Tschetschenen und andere russische Muslims nicht.
Der IS versucht sie immer wieder, gegen Moskau aufzuwiegeln. Damit diese Strategie Erfolg hat, wird es sicher noch viele Attentate brauchen. In Bagdad waren es Hunderte, bis die Spaltung der Gesellschaft in einen Untergrundkrieg mündete.
9/11 - ein Grosserfolg
Mit dem 9/11-Anschlag verbuchte al-Qaeda einen ersten Grosserfolg. Die USA dekretieren in der Folge den „Krieg gegen den Terrorismus“. Dieser wurde immer mehr zu einem Krieg gegen „den Islam“. So entwickelte sich – und das ist das strategische Fernziel von al-Qaeda und des „Islamischen Staats“ – ein Krieg zwischen „den Kreuzfahrern“ und „dem Islam“.
Doch da gab es bisher einen wichtigen Unterschied: Der „Islamische Staat“ versuchte, diesen Krieg von seinem Territorium aus zu führen, dem „Kalifat“, das er dominierte. Ziel war es, dieses Gebiet auszudehnen.
Strategiewechsel beim IS?
Al-Qaeda hingegen wollte kein Territorium erobern und beherrschen, sondern vielmehr den Krieg zwischen den „Kreuzfahrern“ und „dem Islam“ anzufachen.
Möglicherweise findet jetzt beim „Islamischen Staat ein Umdenken statt. Hat jetzt der IS die Strategie von al-Qaeda übernommen und versucht er das zu erreichen, was al-Qaeda seit Jahren anstrebt?
Rückschläge des IS
Möglicherweise werden jetzt beide Strategien gleichzeitig eingesetzt. Der IS hat in jüngster Zeit keine Territorien dazugewonnen. Seine letzte Eroberung war die Stadt Ramadi im Irak. Anderseits erlitt der „Islamische Staat“ mehrere Rückschläge: in Kobane am 26. Januar, in Tikrit am 12. April, bei der Baiji-Raffinerie am 20. Oktober - und erst kürzlich, am 9. November, bei der Luftwaffenbasis Kuwairis in der syrischen Provinz Aleppo sowie am 12. November in Sinjar im Irak.
Zudem muss der „Islamische Staat“ mit weiteren Rückschlägen rechnen. Grund dafür könnten die russischen Einsätze sein, die jetzt zu jenen der amerikanischen Koalition dazukommen.
Aus diesem Grund liegt es nahe – allein schon aus propagandistischen Gründen – die alternative Strategie der direkten Anschläge auf „die Kreuzfahrer“ zu forcieren. Damit können die IS-Terroristen von den Rückschlägen in ihrem „Kalifat“ ablenken.
Marine Le Pen in die Hände gespielt
Zwar liegen für den „Islamischen Staat“ die Ziele in Europa in weiter Ferne. Doch blutige, aufsehenerregende Attentate bringen sie ihrem Ziel näher.
Umfragen nach den Anschlägen in Paris zeigen, dass Marine Le Pen vom Front National die besten Chancen hat, 2017 französische Präsidentin zu werden. Sollten solche Umfragen wirklich zutreffen, können sich die IS-Verantwortlichen auf die Schultern klopfen. Mit Marine Le Pen wird der Krieg zwischen den „Kreuzfahrern“ und „dem Islam“ vorangetrieben.
Doppelstrategie
Endziel ist eine „Endweltschlacht“ gegen die „Kreuzfahrer“. Diese Schlacht soll laut der Mythologie der IS-Sekte bei der nordsyrischen Kleinstadt Dabiq stattfinden. Dehalb heisst das offizielle IS-Publikationsorgan, das im Internet veröffentlicht wird, „Dabiq“.
Neu ist also wohl eine Doppelstrategie: einerseits will man das „Kalifat“ ausdehnen, anderseits will man möglichst „alle“ Muslime zum Kampf gegen die „Kreuzfahrer“ mobilisieren. Sollte die eine Strategie wenig Erfolg bringen, kann man die andere aktivieren. Das Wichtigste für den IS ist, stets den Eindruck zu erwecken, man besitze die Initiative.