Auf die Schulen kommt jetzt Großes zu: Sie müssen Hunderttausende Flüchtlingskinder integrieren. Wie soll das gehen?
Von Marina Kormbaki
Berlin. Drei Sprachlernklassen gibt es an der Grundschule von Schulleiter Holger Leimbach, alle drei sind mit je zwölf Schülern voll belegt. Auf einer Warteliste stehen zehn Namen, es könnten mehr werden - denn in der benachbarten Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Moabit treffen Tag für Tag Kinder mit ihren Eltern ein. Neue Kollegen unterrichten jetzt an der Schule, ältere buchen Fortbildungen, um zu lernen, wie sie Migrantenkindern am besten Deutsch beibringen. Kurzum: Von Routine kann eigentlich keine Rede sein an der Miriam-Makeba-Grundschule. Aber für Schulleiter Leimbach ist das kein Grund, nervös zu werden.
Ob die Flüchtlingskinder den Schulbetrieb vor Probleme stellen? 
"Überhaupt nicht", sagt Holger Leimbach. Es klingt nach Tatkraft, nach 
dem von der Kanzlerin vorgegebenen "Wir schaffen das"-Optimismus dieser 
Tage. Und es klingt für manchen auch etwas blauäugig angesichts der 
neuesten Berichte, nach denen die Regierung intern davon ausgeht, dass 
in diesem Jahr nicht bis zu einer Million, sondern sogar bis zu 1,5 
Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kommen könnten. 
Integration ist ein kühles, technokratisches Wort. Es verschleiert die 
harte Arbeit, die Integration bedeutet. Zum Beispiel an Schulen. Viele 
jener Menschen, die jetzt in Deutschland Schutz suchen, sind Kinder. Sie
 können kein Deutsch, wurden seit Jahren nicht oder auch noch nie 
unterrichtet, haben häufig Schlimmes erlitten. Sie stellen das 
Schulwesen vor eine große Aufgabe.  
Wie viel Aufwand und wie viel Geld nötig sein werden, damit diese Kinder
 eines Tages ihren Platz in der Gesellschaft finden können, lässt sich 
nur schwer abschätzen. Irgendwie aber muss man ja auf die neue Lage 
reagieren, und deswegen hat Marlis Tepe, Vorsitzende der 
Lehrergewerkschaft GEW, eine Rechnung aufgestellt: "Wir gehen für die 
nächsten zwölf Monate von bundesweit rund 300000 zusätzlichen Schülern 
aus, die allein oder mit ihren Eltern geflüchtet sind. Um diesen ein 
qualitativ gutes Schulangebot zu machen, sind rund 25000 Lehrkräfte 
zusätzlich notwendig." Tepe lobt die Bemühungen der Bundesländer, neue 
Lehrerstellen zu schaffen. "Das Problem aber ist: Der Markt für Lehrer, 
die Deutsch als Zweitsprache unterrichten, ist leer gefegt." Die 
Gewerkschafterin plädiert für pragmatische Lösungen: "Es muss auch über 
den Einsatz pensionierter Lehrkräfte mit der Qualifikation für Sprachen 
und über Crashkurse im Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache für 
pädagogisch qualifizierte Menschen nachgedacht werden."
Flexibilität ist das Gebot der Stunde. Oder, wie es Stefan Kaufmann, 
Obmann der Unionsfraktion im Bildungsausschuss des Bundestags, 
ausdrückt: "Es sind jetzt unbürokratische Lösungen gefragt." Auch 
Kaufmann wirbt dafür, die formellen Hürden für den Sprachunterricht 
nicht wachsen zu lassen: "Neben Deutschkursen, für die qualifizierte 
Lehrkräfte - aber nicht zwingend zwei Staatsexamina - benötigt werden, 
braucht es Selbstlernprogramme." Und die Kosten? "Bei der Finanzierung 
der Sprachkurse müssen die Kommunen durch Bund und Länder unterstützt 
werden." Überhaupt sei mehr Zentralisierung nötig. "Ich bin 
zuversichtlich, dass wir die große Herausforderung meistern werden - 
wenngleich der Bildungsföderalismus hierbei sicherlich eher hinderlich 
als förderlich ist."
Die vielen Bilder von Menschen, die jetzt ins Land kommen, erwecken den 
Eindruck einer nie da gewesenen Ausnahmesituation. Aber Deutschland ist 
ja nicht erst seit diesem Sommer Einwanderungsland. "Wir haben in der 
Vergangenheit bereits vielfältige Erfahrungen gesammelt und Konzepte 
entwickelt. Wir müssen jetzt das Rad nicht neu erfinden", sagt Prof. 
Viola Georgi, Bildungsexpertin an der Uni Hildesheim. "Schon seit Langem
 vermitteln wir Lehramtsstudenten eine Pädagogik, die kulturelle 
Unterschiede und Mehrsprachigkeit von Schülern nicht mehr als Problem 
betrachtet, wie es in früheren Jahrzehnten der Fall war." 
In den Sechzigerjahren steckte man die Kinder der Gastarbeiter in die 
"Ausländerklassen". Dort saßen sie ihre Schulzeit ab, getrennt von ihren
 deutschen Mitschülern. Das Erlangen eines Schulabschlusses war nicht 
wichtig. Die Gastarbeiterkinder würden ja bald wieder mit ihren Eltern 
heimkehren in die Türkei, nach Griechenland oder Italien - so die 
folgenschwere Annahme. 
"In der Bildungspolitik der Vergangenheit wurden viele Fehler gemacht", 
sagt Georgi. "Daraus haben wir inzwischen eine Menge gelernt." So lernen
 die Kinder der Flüchtlinge, aber auch die der Einwanderer aus 
EU-Staaten heute zunächst in "Willkommensklassen", "Integrationsklassen"
 oder "Sprachlernklassen" - jedes Bundesland, jede Schule hat da ihre 
eigene Bezeichnung. "Diese Klassen sind ein Schon- und Schutzraum für 
die Kinder. Dort können sie langsam ankommen in ihrem neuen Alltag, sich
 mit der neuen Sprache vertraut machen. Dass Kinder dort auf Kinder 
treffen, die die gleiche Muttersprache sprechen, vermittelt ein Gefühl 
von Vertrautheit und Geborgenheit." Wichtig ist allerdings, und das 
betont die Forscherin Georgi, dass die Kinder möglichst schnell in 
Regelklassen aufgenommen werden. Länger als sechs bis zwölf Monate solle
 die Eingewöhnung in der Integrationsklasse nicht dauern. "Der Wechsel 
kann auch schrittweise geschehen - zum Beispiel können Flüchtlingskinder
 in Fächern wie Sport, Kunst und manchmal auch Mathematik recht schnell 
in den Regelunterricht integriert werden." 
Die Integrationsarbeit solle aber nicht allein Lehrern aufgebürdet 
werden: "Es müssen mehr Psychologen, Sozialarbeiter und Dolmetscher in 
die Schulen", sagt Georgi. Und noch etwas sei wichtig: die Stimmung im 
Klassenraum, die Haltung im Kollegium. "Zurzeit ist in den Schulen sehr 
viel guter Wille zu spüren", sagt Georgi. 
Guter Wille - bei Schulleiter Holger Leimbach tritt diese Einstellung 
als zupackender Pragmatismus in Erscheinung. Er mag nicht von 
"Willkommensklassen" sprechen. "Willkommen ist bei uns jedes Kind", sagt
 der Berliner. "Sprachlernklassen, so heißt das bei uns. Die Kinder 
lernen halt die Sprache."
