Sollen wir helfen und offen sein? Oder schnell dicht machen? Der Zustrom von Flüchtlingen schafft neue Spannungen in Deutschland jenseits der alten Ost-West-Gegensätze. Helfer und Hetzer wohnen oft am gleichen Ort - aber blicken auf die Welt, als lebten sie auf verschiedenen Planeten. Woher kommt diese Trennlinie? Und wie kann man sie überwinden?
Von Matthias Koch
Intercityzüge der Bahn werden dieser Tage zu rollenden, schaukelnden Orten interessanter neuer Begegnungen. Viele Deutsche treffen hier, zwischen Rostbratwürstchen und Kaffee HAG, zum ersten Mal in ihrem Leben auf Flüchtlinge aus Syrien.
"Zug ist stark ausgelastet", heißt es  auf Anzeigetafeln an bayerischen 
Bahnhöfen, wenn Erstaufnahmestellen in Wien und München mal wieder per 
ICE ihre Schützlinge nach Norddeutschland fahren lassen. Pendler in 
Regensburg oder Nürnberg wissen dann schon Bescheid und nehmen, wenn sie
 auf einen Sitzplatz Wert legen, den nächsten Zug.
Dabei kann es ganz nett sein mit den Syrern. Ein Schaffner bestätigt 
das: "Wir dachten, es gibt mehr Probleme, aber es läuft alles ziemlich 
rund."
Der Zug ist voll. Man rückt zusammen. Auf dem Teppichboden sitzen, teils
 im Schneidersitz und Knie an Knie: syrische Teenager, ein deutscher 
Versicherungsvertreter, ein syrischer Opa, zwei deutsche Wanderer mit 
großen Rucksäcken, dann wieder viele Syrer, am Ende deutsche Teenager, 
kaugummikauend und in ihr Handy starrend. 
Ein Deutscher, Managertyp, lose Krawatte, klappt den Laptop zu und fragt
 eine Gruppe junger Syrer: "Sprecht ihr Englisch?" "No." Wo kommt ihr 
her? "Syria." Wo wollt ihr jetzt hin? "Syria."
Es klappt nicht mit der Verständigung. Aber alle lächeln sehr höflich.
Der Rentner hat eine junge Frau ausfindig gemacht, die beim Übersetzen 
helfen kann. Er sagt: "Wir sind ja selbst auch geflohen." - "He was a 
refugee, too", sagt die Frau. Die jungen Syrer wundern sich. Der Rentner
 berichtet von seiner Flucht aus Ostpreußen ins Ruhrgebiet, da konnte 
man nach dem Krieg als junger Mann unter Tage gutes Geld verdienen. 
"Schade, dass es die Kohlegruben nicht mehr gibt. Das wäre jetzt ein 
guter Job für euch, wisst ihr, für den Anfang." - "The coal mines are 
closed, too bad." Hilflos sehen die Syrer einander an. Kohle? Coal? Was 
will der alte Mann? Alles sehr gut verstanden hat indessen die Frau des 
Rentners, die ihren Lebenspartner milde anblickt: Was für ein netter 
Mann. Gönnt Flüchtlingen im ICE ein nettes Wort. Der Zug rattert, das 
Schweigen kehrt zurück. Alles ein bisschen surreal, ein bisschen 
rührend, wie in einem Film von Jim Jarmusch. 
Ein Abteil weiter lästert eine dicke  deutsche Frau: "Möchte mal wissen,
 was allein die Fahrkarten für die alle kosten." Als andere Fahrgäste 
aufblicken, setzt sie nach: "Ich meine: Wir bekommen doch auch nichts 
geschenkt, oder?"
Woher kommt diese Spaltung? Warum reagieren in exakt derselben Situation
 die einen so freundlich und die anderen so feindselig auf Fremde?
Im Jahr 25 nach der deutschen Vereinigung stellt sich eine neue 
Gretchenfrage. Wie hältst du es mit den Flüchtlingen? Der Riss geht, mit
 verblüffender Präzision, exakt durch die Mitte der Gesellschaft. 50 
Prozent sagten im jüngsten Politbarometer, sie stünden hinter der 
Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. 50 Prozent: keine Mehrheit, aber auch 
keine Minderheit. Eine neue deutsche Uneindeutigkeit verbindet Ossis und
 Wessis. In den teuren Vierteln Potsdams blickt man aus efeuumrankten 
Villen genauso entspannt aufs blinkende Wasser wie am Starnberger See. 
In Berlin-Marzahn stören zur gleichen Zeit bettelnde Roma-Kinder die 
Aldi-Kundschaft ebenso wie in Duisburg-Marxloh.
Dass etwa "die Dresdener" generell ausländerfeindlicher seien als die 
Dortmunder, darf niemand ernsthaft behaupten. In Dresden begegnet man 
zwar besonders engagierten Hetzern. Doch hier leben auch besonders 
engagierte Helfer. Jüngst wurde Elisabeth Ehninger, Vorsitzende des 
Vereins "Dresden - Place to be" vom Bundesverband Deutscher 
Zeitungsverleger mit dem "Bürgerpreis 2015" ausgezeichnet. Ehningers 
Verein hat mit Konzerten und Aktionen Zeichen gesetzt und vermittelt 
dauerhaft Paten an Neu-Dresdener aus dem Ausland. 
Die einen empfinden so etwas als Vorbild und würden gern bei ähnlichen 
Aktionen helfen. Den anderen fiele dies im Traum nicht ein. Für beide 
Seiten gibt es Prototypen. Die Helfer: Da sieht man die idealistische 
Studentin vor sich mit wehendem Haar, auf dem Weg, Bio-Apfelkuchen für 
alle zu backen, die Eltern sind Akademiker, man lebt in gesicherten 
Verhältnissen.
Oft sind die, denen es gut geht, diejenigen, die Gutes tun. Dagegen sind
 jene, die sich selbst ökonomisch wackelig fühlen, Fremden gegenüber 
weniger hilfsbereit: Zeit- und Leiharbeiter, Arbeitslose, Ältere mit 
kleiner Rente. 
Jüngste Zahlen aus der Demoskopie bestätigen diese Deutung. Die 
Forschungsgruppe Wahlen fragte: Schaffen wir das? Kann Deutschland die 
mit dem Flüchtlingszustrom verbundenen Lasten tragen? Zweifel daran 
äußern nur 35 Prozent derjenigen, denen es nach eigener Einschätzung 
wirtschaftlich gut geht. Unter denen, die sich in einer schlechten Lage 
sehen, sind dagegen 52 Prozent eher skeptisch.
Hohes Bildungsniveau, Optimismus, eine Kindheit mit liebenden Eltern, 
Zutrauen in die eigene Leistungskraft, vielleicht gar ein bisschen 
Immobilienbesitz: Dies alles scheinen Faktoren zu sein, die uns im 
Zweifel etwas ausländerfreundlicher und hilfsbereiter machen. Der 
maßgebliche Faktor liegt nicht allein im Ökonomischen. Er liegt im 
Selbstvertrauen, in Gelassenheit, in einer inneren Sicherheit im 
psychologischen Sinne. 
Der nette Rentner im ICE hat vielleicht auch nicht mehr Geld als die 
feindselige Frau ein Abteil weiter. Aber er hat, das ist das 
Entscheidende, keine Angst.
Ausländerfeindlichkeit und Rassismus wurzeln in Angst. Das Wort 
Xenophobie, Angst vor dem Fremden, hört man meist nur als Vorwurf gegen 
jene, die diese Angst haben. Manche schüren diese Angst in verwerflicher
 Weise. Andere aber sind wirklich nur Opfer dieser Angst. Muss man nicht
 den Gedanken zulassen, dass Xenophobie sich in modernen Gesellschaften 
leise ausbreitet wie andere psychische Störungen auch? Dass sie, wie 
andere Ängste, die Schwächsten zuerst befällt? 
Guten Menschen, die jetzt bereits den Flüchtlingen helfen, steht eine 
weitere Prüfung ihrer Güte und Größe bevor, über die bislang kaum jemand
 spricht.Schaffen sie es auch, Helfer zu sein für ängstliche 
Einheimische? Gönnen Sie auch ihnen ein nettes Wort? Heute wie vor 25 
Jahren gilt, dass die Teilung durch Teilen überwunden werden kann. Wenn 
die Ängstlichen mehr Sicherheit empfinden, hilft dies am Ende allen. 
