Kurt Biedenkopf über Asyl-Proteste, Flüchtlings-Soli und die Anfänge des Freistaates
Dresden. Kurt Biedenkopf gilt unangefochten als Gründungsvater des Freistaates Sachsen. Heute stellt der 85-jährige CDU-Politiker, der zwischen 1990 und 2002 Ministerpräsident war, seine Tagebuch-Aufzeichnungen über die ersten Jahre im neuen Sachsen vor. Im Vorab-Interview mit der LVZ zollt Biedenkopf den Ostdeutschen seine Hochachtung - und provoziert unter anderem mit der Aussage, dass Ostdeutsche gegen Rechtsextremismus immun seien.
1990 haben Sie in Ihrer ersten Neujahrsansprache als Ministerpräsident von Sachsen festgestellt, "alles bricht schneller zusammen, als Neues entsteht". Kann ein "Wir schaffen das" ein politisches Wunder bewirken?
Ein politisches Wunder nicht, aber es kann eine Ermutigung sein.
Es ist viel vom "Glücksfall" der Wiedervereinigung die Rede. Hatten
Sie das Gefühl, dass aus Ihnen ein echter Ost-Glückspilz werden könnte?
Nein. Dazu war ich erstens viel zu sehr mit der Realität verbunden, und
zweitens wäre das eine ausgesprochene Überschätzung gewesen. Ich habe
zwölf Jahre eine schöne, eine sehr schwierige, aber in den Ergebnissen
auch eine sehr befriedigende Tätigkeit ausgeübt. Die Menschen haben
meine Frau und mich freundlich empfangen. Sie boten uns die Chance, ihr
Vertrauen zu gewinnen.
Litten Sie, angesichts der großen Erwartungen, damals unter Versagensängsten?
Nein. Versagensängste hatte ich bisher allenfalls bei einem schwierigen
Examen. Man ahnt, was kommen könnte, und hat Angst davor. Als
Ministerpräsident war ich eher ungeduldig mit dem Westen. Man brauchte
dort zwei, drei Jahre, um zu begreifen, dass die Wiedervereinigung eine
gesamtdeutsche Aufgabe war. Die ersten zehn Jahre waren zudem so
spannend, kreativ und fordernd, da blieb keine Zeit für Versagensängste.
Für manche war vor 25 Jahren Schluss mit der Karriere. Bei Ihnen
ging es noch mal so richtig los. Wären die Ossis ohne manche Wessis nach
1990 glücklicher geworden?
Wir haben das in Sachsen gemeinsam erlebt. Das war das Schöne. Die
Bevölkerung wusste, dass sie die Probleme lösen musste, und ich wurde
gewählt, um ihnen mit meinem Wissen und meinen Führungsfähigkeiten dabei
zu helfen. Ich war immer darum bemüht, nichts Unrealistisches zu
versprechen.
Was ist Ihnen als Ministerpräsident besonders gut gelungen?
Ich habe mit meinem Kabinett gut gearbeitet. Wir hatten nur zwei
westdeutsche Minister. Alle anderen kamen aus Ostdeutschland. Sie haben
akzeptiert, dass ihre Staatssekretäre aus dem Westen kamen. Die hatten
den Auftrag, ihre Chefs mit ihrem Wissen zu unterstützen, ihnen das neue
Recht zu erklären und die Gesetzmäßigkeiten der westdeutschen
Verwaltung nahe zu bringen.
Wieso machen heute nur noch so wenige mit, wenn es politisch wird?
Wenn Sie Parteien meinen, gibt es dafür eine ganze Menge Gründe. Die
beiden großen Parteien haben sich immer mehr angenähert. In Berlin haben
beide zusammen eine verfassungsändernde Mehrheit. Sie fühlen sich dabei
offenkundig ziemlich wohl. Wer Mitglied werden will, fragt sich doch,
was die beiden Parteien unterscheidet. Dampft man sie auf das ein, was
konkret und zukunftsorientiert ist, und verschwinden damit die
Allgemeinplätze und Worthülsen, dann bleibt in der Regel nicht viel
Kreatives und Neues übrig. Von den kommenden Bedrohungen durch
Flüchtlinge aus Afrika und dem Mittleren Osten war vor wenigen Jahren
noch keine Rede, obwohl sie bereits absehbar waren. Schon vor 30 Jahren
habe ich dafür geworben, dass Europa das Mittelmeer als ein europäisches
Meer begreift und sich um die Menschen in Afrika und im Mittleren Osten
kümmert. Das fanden die Verantwortlichen zwar interessant, aber
umworben haben sie einen Diktator wie Gaddafi in Libyen, weil der Europa
die Flüchtlinge vom Hals hielt. Die heutigen Flüchtlingsströme sind
auch die Folge unseres Versagens und unserer Missachtung ihrer
Schicksale. Heute wissen die Afrikaner über Handy und Internet, wie
schön das Leben nördlich der Alpen ist. Dass es dort sauberes Wasser und
grüne Wälder gibt. Dort wollen sie hin und Krieg und Zerstörung
entkommen.
Wieso haben Sie sich mit Ihrer Aussage so getäuscht, dass die Sachsen immun gegen den Rechtsextremismus seien.
Wieso habe ich mich getäuscht? Die große Mehrheit ist immun und bleibt
es - wie in Westdeutschland, wo der Rechtsextremismus in Gestalt der
Republikaner in Baden-Württemberg seinen Anfang nahm. Überwiegend sind
es zudem Westdeutsche, die ihn nach Osten bringen. Dort, wo es ihnen
gelingt, erzeugen sie zwar eine Protesthaltung, aber keine strategische
Kraft. Dass der Protest im Osten intensiver ist, hat vor allem zwei
Gründe. Erstens: Die Menschen haben keine Erfahrung mit Flüchtlingen aus
anderen Kulturkreisen. Zweitens: Sie haben in den letzten 25 Jahren
eine Umwälzung ihrer gesamten Lebensverhältnisse verkraften müssen.
Angesichts der Flüchtlingsströme fürchten sie um den Bestand des gerade
Erreichten.
Jetzt steht Stanislaw Tillich in Heidenau fassungslos vor dem radikalisierten Mob und sagt: "Das ist nicht unser Sachsen."
Da hat er auch Recht. Ein nicht unwesentlicher Teil der Leute, die für
die Übergriffe in Heidenau verantwortlich waren, waren keine Sachsen.
Sie kamen aus Westdeutschland. Keine gesamtdeutsche Integration, wie wir
sie uns wünschen!
Bei Ihrem ersten Wahlkampf erklang das Lied: "Hier kommt Kurt!" Das
vermittelte Ihre Botschaft, lasst den Biedenkopf mal die Politik machen,
das wird schon.
Es ist schön, wenn die Leute sich freuen, so ein Lied zu spielen. Aber
es war nie meine Botschaft. Die lautet: Der Vater Staat ist kein Vater.
Sonst wärt ihr ja seine Kinder. Ihr seid aber freie und für uns
verantwortliche Staatsbürger. Deshalb erwarte ich von Euch, dass ihr
Verantwortung übernehmt, so weit ihr dazu in der Lage seid. Das ist
meine Überzeugung seit 60 Jahren.
War denn der Soli für den Aufbau Ost eine ehrliche Maßnahme der
Politik und wäre es nicht heute auch ein Soli für die Flüchtlinge?
Ich hätte nichts gegen einen Soli für Flüchtlinge - als Ergänzung eines
breiten bürgerschaftlichen Engagements, nicht als Ersatz. Wenn man von
Europa als einer Gemeinschaft redet, dann von einer Gemeinschaft, die
die verdammte Pflicht und Schuldigkeit hat, auch Verantwortung zu
übernehmen für das, was außerhalb unserer Grenzen passiert. Ein
introvertiertes, vor allem mit sich selbst beschäftigtes Europa, bietet
unseren Enkeln keine Zukunft. Sie wird auch nicht von Parlamenten
gestaltet, deren Mitglieder ihren Lebenszweck darin sehen, unser Leben
immer umfassender zu regeln und darüber die Fähigkeit verlieren, sich
mit langfristigen Veränderungen zu beschäftigen, wie mit den Ursachen
und Folgen der neuen Völkerwanderung in Gestalt der
Flüchtlingsbewegungen.
Privat geht es für Sie vom Chiemsee zurück nach Dresden, zur Familie
in die neue und alte Heimat. Möchten Sie gern ins alte Wasserwerk
Saloppe einziehen?
Darüber haben wir lange nachgedacht; wohl eher nicht. Meine Frau und
ich haben in Dresden Wurzeln geschlagen. Aber mein Aktionsradius ist
Deutschland und Europa und darüber hinaus. In meinem Mittelpunkt steht
die Sorge, ob die Prozesse, die wir in den letzten 50, 60 Jahren in Gang
gesetzt haben, wirklich beherrschbar sind. Dazu gehören vor allen
Dingen die Wachstumsideologie und die Hybris der technischen und neuen
IT Mächte.
Interview: Dieter Wonka