Zwei Mediziner sind entsetzt über die Zustände, die sie in der Dresdner Zeltstadt vorgefunden haben. In dem Flüchtlingscamp spiele sich eine humanitäre Katastrophe ab. Interview: Anant Agarwala, Dresden
ZEIT ONLINE: Herr Loewenbrück, Herr Ehniger, Sie haben als Ärzte freiwillig im Flüchtlingscamp in Dresden gearbeitet. Wie sieht es da aus?
Kai Loewenbrück: Ich hätte nicht gedacht, dass Zustände wie in der Zeltstadt in einem Land wie Deutschland möglich wären. Medizinische und hygienische Mindeststandards werden nicht eingehalten. In einer Stadt wie Dresden, mit einer hervorragenden medizinischen Infrastruktur. Ich habe schon als Medizinstudent in Townships in Südafrika gearbeitet: selbst unter den dortigen Bedingungen wurde mehr dafür getan, den Menschen zu helfen.
ZEIT ONLINE: Wie sieht es im Camp konkret aus, was sind die Probleme?
Gerhard Ehninger: Bei der Unterbringung wurden nicht einmal die Mindeststandards der WHO für Flüchtlingscamps eingehalten, an die man sich normalerweise selbst im Krieg halten müsste. Im Ambulanzcontainer herrscht eine Temperatur von 35 Grad. Medikamente können nicht vernünftig gelagert werden, teils stammt das Material aus im Jahr 2007 abgelaufenen Verbandskästen. Es gibt keine Möglichkeit, Männer und Frauen getrennt voneinander zu untersuchen. Das führt dazu, dass man viele Insassen – denn so muss man die Flüchtlinge angesichts ihrer Unterbringung bezeichnen – gar nicht untersuchen kann. Es gibt zu wenige Toiletten, zunächst waren diese sogar ohne fließend Wasser. Die hygienischen Bedingungen sind sehr schlecht. So konnten sich virale Durchfallerkrankungen und die Krätze ausbreiten. Es fehlte an einfachsten Utensilien: Untersuchungsliegen, Blutdruckmessgeräten, Stethoskopen und sogar an Desinfektionsmitteln.
Loewenbrück: Und man muss dazu sagen, dass das meiste, was da ist, von den freiwilligen Ärzten aus ihren Krankenhäusern mitgebracht wurde. Im Camp wird unser Grundgesetz nicht eingehalten: das Menschenrecht auf Gesundheit. Das Recht auf Privatsphäre. Die Würde des Menschen. Auch das Kindeswohl ist im Camp aus ärztlicher Sicht in Gefahr. Man muss es so deutlich sagen: es geht um das Leben von Menschen. Viele Flüchtlinge sind erst im Camp krank geworden. Dort spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab, während ein paar hundert Meter weiter die Leute am Elbufer liegen.
ZEIT ONLINE: Glaubt man Staatssekretärin Andrea Fischer, ist die Lage vor Ort im Griff.
Ehninger: Staatssekretärin Fischer vermittelt den Eindruck, alles sei in Ordnung und die Ehrenamtlichen würden es schon richten. Das entspricht aber nicht dem Informationsstand, den sie zum Zeitpunkt ihrer Aussagen in Wirklichkeit hatte: dass es sich um einen medizinischen Notstand handelt. Deshalb versucht man auch, den Ärzten den Kontakt mit der Presse zu untersagen. Wer aus Sorge um die Menschen über das Camp spricht, wird rausgeworfen. Das droht nun vermutlich auch uns.
ZEIT ONLINE: Was sind das für Leute, die sich um die medizinische Versorgung kümmern?
Loewenbrück: Vor allem junge und unerfahrene Kollegen, manche mit zwei Monaten Berufserfahrung, die selbst in einem bestens ausgestatteten Krankenhaus die Hilfe von Oberärzten brauchen. Das sind die, die dort freiwillig nach ihren Schichten im Krankenhaus noch arbeiten. Und die Ehrenamtlichen vom Deutschen Roten Kreuz (DRK), die zwölf Stunden und mehr in einer Affenhitze schuften.
ZEIT ONLINE: Wer ist schuld an der Situation?
Loewenbrück: Es geht nicht darum, die Leute vor Ort zu kritisieren. Die Mitarbeiter des DRK und aus den Kliniken versuchen alles, um den Menschen zu helfen. Aber die Stadt Dresden und der Freistaat Sachsen sorgen nicht für gesetzlich geregelte Mindeststandards, die für alle Menschen in Deutschland gelten.
Ehninger: Die Landesdirektion Sachsen versagt. Ob aus Unfähigkeit oder Absicht. Geflüchtete leben in engen Zelten bei 35 Grad, werden sanitär nicht ausreichend versorgt und bekommen teilweise zu wenig Essen. Es treibt einem die Tränen in die Augen. Es kann nicht alles durch Ehrenamtliche aufgefangen werden wie bisher.
ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt Ministerpräsident Stanislaw Tillich?
Loewenbrück: Es ist unerträglich: Am selben Abend, an dem sich engagierte Mediziner, Professoren, die Leiter vom DRK und anderen Institutionen zu einer Krisensitzung treffen, um über Sofortmaßnahmen zur Verbesserung zu sprechen, gibt Tillich eine Erklärung heraus, Abschiebecamps eröffnen zu wollen. Es ist beschämend. Er sollte vielleicht erst mal dafür sorgen, internationale Mindeststandards einzuhalten.
ZEIT ONLINE: Was erwarten Sie von der Politik?
Ehninger: Endlich eine Abstimmung zwischen den verschiedenen Verantwortlichen. Dresden hat leerstehende, voll funktionsfähige Arztpraxen. Sogar eine nicht ganztags belegte Ambulanz der kassenärztlichen Vereinigung. All das könnte die medizinische Versorgung der Flüchtlinge sofort verbessern. Das wurde den zuständigen Behörden und Ministerien schon längst mitgeteilt, aber es ist nichts passiert.
ZEIT ONLINE: Was macht Ihnen Hoffnung?
Loewenbrück: Das Engagement so vieler Leute in der Stadt. Die vielen Freiwilligen. Wir senden ein Signal: Dresden und Sachsen stehen bereit, gesamtgesellschaftliche Probleme mit anzupacken. Die Politik muss endlich nachziehen.