Studie: Mangelernährung in unteren Schichten / Lebenserwartung geringer als bei gut situierten Familien
Leipzig. Je geringer das Einkommen und die Bildung der Eltern, desto
 schlechter die Gesundheit und Bildungschancen der Kinder - das 
offenbart eine Studie des Leipziger Universitätsklinikums. Wieland 
Kiess, der Chef der Uni-Kinderklinik, und Ulrike Igel, Sozialpädagogin 
von der HTWK Leipzig, erklären diese Entwicklung.
  
 Professor Kiess, was ist die Botschaft der neuen Studie, die Sie 
gemeinsam mit Ihrem Team und vor allem der Doktorandin Kristin Rieger 
angefertigt haben?
 
 Wieland Kiess: Je höher der Wohlstand und die Bildung der Eltern
 ist, umso besser sind die Hämoglobin-Werte und der Eisen-Haushalt der 
Kinder - und desto gesünder sind die Kinder. Oder anders: Je geringer 
das Einkommen und die Bildung der Eltern sind, desto schlechter geht es 
den Kindern. Für diese untersuchten Kinder steht die Ampel bereits auf 
Gelb. Ganz ehrlich: Als ich die Werte zum ersten Mal gesehen habe, war 
ich schockiert. 
 Welche Konsequenzen hat Eisen-Mangel?
 
 Wieland Kiess: Man wird müde, ist unkonzentriert, weist 
Lernschwächen auf, verfügt über weniger Ausdauer beim Sport, ja, man 
schläft in der Schule vielleicht ein. Diese Kinder haben aufgrund des 
Elternhauses erheblich schlechtere Chancen, sowohl die Bildung als auch 
die Gesundheit betreffend.
 Gibt es bereits Krankheitsmuster?
 
 Wieland Kiess: Wichtig ist: Die Kinder sind noch nicht krank - 
doch sie sind in einem deutlich schlechteren Zustand als Kinder, die 
nicht den unteren Schichten angehören. Wir haben 2200 Kinder zwischen 
zwei und 19 Jahren untersucht, und die Werte werden schlechter, je 
schlechter es den Kindern zu Hause geht. Das Tragische ist: Hier wird 
der Grundstein für die weitere gesundheitliche Entwicklung gelegt. Diese
 Kinder werden schon heute - und als Erwachsene erst recht - länger 
brauchen, um sich beispielsweise nach einer Infektion oder einer 
Operation zu erholen. Letztlich bedeutet das auch: Die Lebenserwartung 
ist erheblich geringer als bei Kindern, die aus gut situierten Familien 
stammen.
 Hinzu kommen noch Umwelteinflüsse, die Sie ebenso erforschen.
 
 Wieland Kiess: Ja, in einem EU-Projekt, in dem wir gemeinsam mit
 schwedischen Wissenschaftlern arbeiten, untersuchen wir jetzt die 
Einflüsse von Weichmachern in Verpackungen und Spielzeugen auf die 
Gesundheit. Die Hinweise sind sehr stark, dass Kinder, die mit diesen 
Weichmachern konfrontiert werden, unter gravierenden Langzeitfolgen 
leiden. Dazu gehört unter anderem eine verminderte Sprachentwicklung. 
Auch die Fruchtbarkeit kann später beeinträchtigt werden. Insgesamt 
schließt sich der Kreis wieder zu Einkommen und Bildung: Wer über einen 
geringeren Wohlstand verfügt, kauft aufgrund des Preises häufiger 
eingeschweißte Waren, statt sich durch frische Produkte zu ernähren. Das
 Gleiche gilt für Plastespielzeug, das in unteren Schichten weit 
verbreitet ist. 
 Worin sehen Sie die Ursachen für diese schlechte gesundheitliche Entwicklung?
 
 Wieland Kiess: Es gibt nicht die eine Erklärung. Eine der 
Ursachen ist sicherlich die Ernährung, hinzu kommt in vielen Fällen auch
 Bewegungsmangel. Wenn ein Kind mehr Zucker isst als Cerealien, also 
Getreideprodukte wie Müsli, sinken die Eisen-Werte, denn auch in den 
Cerealien ist Eisen enthalten. Viele Menschen denken: Hauptsache 
Fleisch, dann klappt es mit dem Eisen-Haushalt. Doch das hat keine 
Allgemeingültigkeit. Menschen mit einem geringeren Bildungshintergrund 
und weniger Einkommen essen häufig viel Fleisch, doch diesen Menschen 
fehlen diejenigen Stoffe, die das Eisen binden und transportieren. Auch 
die Umgebung, das Zuhause, spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. 
 Ulrike Igel: Wir haben Stadtteile in Leipzig untersucht, in 
denen der Anteil von Sozialgeld-Empfängern bei 70 Prozent liegt - die 
Kinder sind in einem viel schlechterem gesundheitlichen Zustand als in 
besseren Vierteln. Nicht nur mangelhafte, unausgewogene Ernährung ist 
hier weit verbreitet, sondern auch die Neigung zu starkem Übergewicht. 
Es spielt sicherlich vieles hinein - etwa Ernährung, Wohnumfeld und 
Bewegung. 
 Das heißt, diese Kinder verfügen auch über geringere Chancen, in der Bildung aufzusteigen?
 
 Wieland Kiess: Ja, und für uns heißt das, die Zusammenhänge noch
 besser zu erklären. Ein Elternhaus mit geringerem Einkommen und 
geringerer Bildung beeinträchtigt nicht nur die Gesundheit, sondern 
reduziert auch die Möglichkeiten einer besseren Bildung für die Kinder. 
Das ist ein verheerender Kreislauf. Schon jetzt ist festzustellen, dass 
die Schere zwischen Arm und Reich auseinanderklafft: Es gibt einerseits 
Familien, denen es sehr gut geht - andererseits bewegen sich viele 
Familien zunehmend am Existenzminimum, meist mit einhergehender 
niedriger Bildung. 
 Ulrike Igel: Wir haben festgestellt, dass Kinder, die in 
benachteiligten Stadtteilen aufwachsen, eine höhere Wahrscheinlichkeit 
für Übergewicht und eine reduzierte Motorik aufweisen, daneben hängen 
die Schulleistungen zurück. Es liegt also nicht nur an der Bildung der 
Eltern, sondern auch am Einfluss der näheren Umgebung. Deshalb muss 
nicht nur gegen eine Gentrifizierung, sondern auch gegen eine 
Ghettoisierung gearbeitet werden. Wichtig wäre eine gesunde Mischung von
 allen Schichten, statt bestimmte Stadtteile zu stigmatisieren.
 Die Mieten im Leipziger Osten oder in Plattenbausiedlungen sind 
geringer als in Schleußig oder Gohlis. Eine bessere Mischung wird kaum 
möglich sein. 
 
 Ulrike Igel: Daran muss aber gearbeitet werden. Hier sind unter 
anderem die Stadtplaner gefragt. Denn es ist genauso bedenklich, wenn 
nur finanziell Bessergestellte in bestimmten Stadtteilen leben, und in 
anderen überwiegend Arme. Menschen müssen Erfahrungen und auch 
Lebensmodelle austauschen, ansonsten grenzen sich die Schichten 
voneinander ab. Für das Gemeinwesen, für die Gesellschaft hat das 
gefährliche Folgen. Die Anzeichen sind in Leipzig bereits deutlich zu 
sehen. 
 Interview:   Andreas Debski 
  Wieland Kiess (57) ist seit 1998 Professor für 
Allgemeine Pädiatrie und Direktor der Universitätskinderklinik Leipzig. 
Von 2002 bis 2005 war der gebürtige Schwarzwälder zudem Dekan der 
Medizinischen Fakultät an der Universität Leipzig. Forschungs- und 
Lehraufenthalte absolvierte Kiess unter anderem in den USA, in 
Australien und in Schweden.
 
 Ulrike Igel (33) hat Soziale Arbeit an der HTWK Leipzig studiert
 und ist seit 2007 Mitglied der Forschungsgruppe "Soziales und 
Gesundheit". Im Rahmen ihrer von der EU geförderten Dissertation 
forschte die gebürtige Altenburgerin über den Zusammenhang von 
Sozialraum und Gesundheit. Aktuell betreut sie das Projekt "Grünau 
bewegt sich".
Leipziger Medizinstudie: Kinder aus gut situierten Familien leben länger
Je besser die Bildung der Eltern, desto gesünder der Nachwuchs / Forscher Kiess: Langzeitwirkung verheerend
Leipzig. Eine neue Studie des Uni-Klinikums Leipzig offenbart erschreckende Ergebnisse: Je geringer das Einkommen und die Bildung der Eltern sind, desto schlechter ist die Gesundheit der Kinder. Hinzu kommen deutlich verminderte Bildungschancen. "Für diese Kinder steht die Ampel bereits auf Gelb", warnt Professor Wieland Kiess (57), Chef der Uni-Kinderklinik und Betreuer der Forschungsarbeit, die der LVZ exklusiv vorliegt. Denn die Langzeitwirkung sei verheerend: "Die Lebenserwartung ist deutlich geringer als bei Kindern, die aus gut situierten Familien stammen."
Im Rahmen des Großforschungsprojektes Life waren für die Studie 2200 Kinder zwischen 2 und 19 Jahren untersucht worden. Dem Forscherteam ging es dabei insbesondere um die Hämoglobin-Werte und den Eisen-Haushalt. Das Resultat: Die Werte von Kindern aus einkommensschwachen und weniger gebildeten Familien weisen bereits bedenkliche Defizite auf. "Man wird müde, ist unkonzentriert, weist Lernschwächen auf und verfügt über weniger Ausdauer beim Sport", erklärt der Leipziger Kinder-Spezialist die Folgen. Aus anderen Studien ist bekannt, dass Kinder aus unteren Schichten erheblich schlechtere Kalzium- und Vitamin-D-Werte aufweisen. "Eine der Ursachen ist die Ernährung, hinzu kommt Bewegungsmangel", macht Kiess klar und spricht von einem "verheerenden Kreislauf".
Eine weitere Studie, die an der Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) angefertigt wurde, macht für gesundheitliche Defizite auch das Wohnumfeld verantwortlich. "Wir haben festgestellt, dass Kinder, die in benachteiligten Stadtteilen aufwachsen, eine höhere Wahrscheinlichkeit für Übergewicht und eine reduzierte Motorik aufweisen, daneben hängen die schulischen Leistungen zurück", sagt die HTWK-Sozialpädagogin Ulrike Igel. So seien Kinder aus Stadtteilen, die einen überdurchschnittlichen Anteil von Hartz-IV-Empfängern aufweisen, in einem viel schlechterem gesundheitlichen Zustand als in besseren Vierteln.
Als Konsequenz aus den Leipziger Ergebnissen mahnt Sachsens Sozialministerin Barbara Klepsch (CDU): "Für mich steht Aufklärung an erster Stelle. Denn auch ohne großen finanziellen Aufwand kann man Kinder gesund ernähren, sie zu Bewegung an frischer Luft animieren und ihnen Anregungen für ihre mentale Entwicklung bieten." Deshalb habe die Landesregierung etwa Gesundheitsziele ausgegeben und fördere verschiedene Programme. "Denn 'Gesund aufwachsen' beginnt auch in unseren Kitas", erklärt Barbara Klepsch.
Ihre Thüringer Amtskollegin Heike Werner (Linke) sieht in Kita-Modellprojekten des Landes für mehr Bewegung und gesunde Ernährung einen ersten Schritt. "Maßnahmen für die Kindergesundheit und den Kinderschutz müssen aber stetig weiterentwickelt werden", so die Sozialministerin. Hierbei seien insbesondere auch die Gesundheitspolitiker gefordert. "Wir müssen gemeinsam alle Anstrengungen unternehmen, damit Kinder und Jugendliche die bestmöglichen Chancen für eine optimale Entwicklung haben - und zwar unabhängig von ihrer sozialen Lage."
