Im Lüneburger Auschwitz-Prozess wird der Angeklagte zu vier Jahren verurteilt - wegen Beihilfe zum Massenmord. Ob er die Haft antreten muss, ist offen.
Von Thorsten Fuchs
Lüneburg. Das Urteil gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning ist wenige Minuten alt, da steht Leon Schwarzbaum vor der Halle, die dem Landgericht Lüneburg als Saal diente, und sucht nach den richtigen Worten. Ein klein gewachsener, schmaler Herr in dunklem Sakko mit silbernen Knöpfen, er wollte gut gekleidet sein an diesem Tag. Schwarzbaum ist 94. So alt wie Gröning. Und genau wie Gröning war auch Schwarzbaum in Auschwitz, nur stand er dort auf der anderen Seite. Von 1943 bis 1945 war Leon Schwarzbaum dort Häftling, ein Todgeweihter.
"Ich bin heute von Berlin hierher gekommen, weil ich Gerechtigkeit 
erleben wollte", sagt Schwarzbaum. "Und ich habe heute Gerechtigkeit 
erlebt."
Kurz zuvor hat er mit meist geschlossenen Augen angehört, wie das 
Lüneburger Gericht seinen Schuldspruch verlas: Zu vier Jahren 
Freiheitsstrafe hat es den früheren SS-Unterscharführer Gröning 
verurteilt, wegen Beihife zum Mord in mindestens 300000 Fällen. "Er war 
ein Rad im Getriebe der Tötungsmaschinerie", sagte der Vorsitzende 
Richter Franz Kompisch. "Ob es notwendig war, darauf kommt es nicht an."
 Sowohl mit seinem Dienst an der Rampe in Auschwitz-Birkenau als auch 
mit dem Zählen des Geldes der Opfer und dem Transport der Münzen und 
Scheine nach Berlin habe er die Haupttat, die Ermordung der ungarischen 
Juden im Jahr 1944, unterstützt. "Was Sie als moralische Schuld 
ansehen", sagte Kompisch zu Gröning, "ist genau das, was der Gesetzgeber
 Beihilfe zum Mord nennt."
Das Gericht ging damit noch über die Forderung der Staatsanwaltschaft 
hinaus, die dreieinhalb Jahre für angemessen hielt. Doch noch 
bemerkenswerter als das Strafmaß ist die Art, wie Kompisch es begründet -
 und dabei auf deutliche Distanz geht zur NS-Aufarbeitung durch die 
deutsche Justiz. "Man kann auch nach 70 Jahren noch Gerechtigkeit 
schaffen", sagte der Richter zu Kritik an dem Verfahren. "Und man muss 
es auch." Für das Gericht sei der Prozess einem "Abtauchen in eine lange
 zurückliegende Zeit" gleichgekommen - das Ergebnis war offensichtlich, 
die Biografie des Angeklagten anders zu interpretieren als Gröning es 
selbst tat.
Gröning hatte sich in dem drei Monate dauernden Prozess immer wieder als
 Kind seiner Zeit gezeichnet, das trotz "kaisertreuer" und 
"Adolf-treuer" Erziehung in Auschwitz um Distanz zur 
Vernichtungsideologie bemüht gewesen sei. Doch genau das nahm ihm das 
Gericht nicht ab. "Eine solche Erziehung muss nicht nach Auschwitz 
führen", hielt Richter Kompisch ihm vor. "Das war Ihre Entscheidung." 
Ohne Männer wie Gröning hätte die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz 
nicht funktioniert: "Man brauchte da nicht nur Sadisten, sondern auch 
Männer mit Bildung." Gröning, offiziell als "kriegsverwendbar" 
eingestuft, hätte sich nach Überzeugung des Gerichts jederzeit an die 
Front versetzen lassen können. "Sie haben sich für den sicheren 
Schreibtischjob entschieden", sagte Kompisch, zu Gröning gewandt. Dies 
sei auch "eine Frage des Mutes" gewesen. Zwar habe Gröning niemanden 
getötet, mit seinen Einsätzen an der Rampe und dem Bewachen des Gepäcks 
aber dazu beigetragen, die jüdischen Opfer über den wahren Charakter des
 Lagers hinwegzutäuschen und so den widerstandslosen Ablauf der 
Mordmaschinerie zu sichern. "Und Sie können mir doch nicht erzählen, 
dass Sie das Leid der Menschen nicht gesehen haben", sagte der Richter 
zu Gröning.
Der 94-Jährige, in weinrotem Pullunder und hellem Hemd, verfolgte die 
Begründung über einen Kopfhörer, äußerlich regungslos. Ob er tatsächlich
 ins Gefängnis muss, wird voraussichtlich erst eine ärztliche 
Untersuchung entscheiden, sobald das Urteil rechtskräftig ist. Wegen der
 angegriffenen Gesundheit des Angeklagten mussten immer wieder 
Verhandlungstage ausfallen, die tägliche Dauer war auf drei Stunden 
begrenzt. "Sie haben gelitten, Sie haben durchgehalten, haben gezeigt, 
dass Sie sich auseinandersetzen", sagte Richter Kompisch. Insbesondere 
die Schilderungen von Auschwitz-Überlebenden, die als Zeugen aussagten, 
hatten Gröning laut ärztlicher Gutachten zugesetzt.
Bedeutsam über den Fall Gröning hinaus könnte allerdings die Kritik des 
Gerichts an der bisherigen Justizpraxis sein. Die deutschen Gerichte 
hätten in den Sechzigerjahren eine "seltsame Rechtsprechung" entwickelt,
 indem sie die Verbrechen von Auschwitz einzeln betrachteten, 
"atomisierten". Die Folge: Nur wenige Täter wurden verurteilt, "kleine 
Räder durfte es nicht geben". Davon setzt sich das Gericht nun deutlich 
ab, indem es etwa den Mord an den ungarischen Juden als ein 
Gesamtverbrechen, eine einzige Tat, begreift.
Richter Kompisch schien am Ende durchaus um den verurteilten Oskar 
Gröning besorgt: "Wir hoffen, dass Ihnen die Strafe hilft, einen 
Schlussstrich unter die Geschehnisse zu ziehen", sagte er zum Abschluss.
 Leon Schwarzbaum, der 30 Familienangehörige in Auschwitz verloren hat, 
war da weniger versöhnlich: "Vergeben", sagte er, "kann ich ihm nicht."
