Gewalt und Gewalt: Der Tag nach dem 20. April

Erstveröffentlicht: 
22.04.2015

Schaut man sich die Rückmeldungen aus allen Ecken der jeweiligen Demonstrationen genauer an, fällt am Tag nach dem Legida-Marsch vom 20. April in Leipzig vor allem eines auf. Jeder bezichtigt wieder jeden, Anlass scheint es auf allen Seiten dazu zu geben. Eigentlich müssten seit gestern Abend, so denn alle Behauptungen im Netz stimmen, viele Anzeigen bei Polizei oder Staatsanwaltschaft eingehen. Die Hinweise auf Gewalt aus den Gegenprotesten heraus mehren sich ebenso, wie die Augenzeugenberichte über das teils strafbare Vorgehen der Polizei am gestrigen Abend.

 

Während Legida mittlerweile auf einen Kern von gut 500 Teilnehmern geschrumpft ist, kam es am gestrigen Abend vor allem zwischen der Polizei und den Gegendemonstranten zu ebenso ernsthaften Auseinandersetzungen, wie zu Angriffen auf den Demonstrationszug von Legida. Im Nachgang soll es – noch unbestätigt – zu Jagdszenen von einigen Legida-Teilnehmern auf Gegenprotestler gekommen sein, es existieren auch umgekehrte Behauptungen – Beweise fehlen oft. Nicht weiter verwunderlich, denn seit gestern Abend dürfte auch klar sein, dass Lok-Hooligans den Flankenschutz bei Legida offiziell angeboten und wohl auch durchgeführt haben.

 

Dennoch handelt es sich hierbei um Gerüchte, wenn es um die Straftaten geht. Erst die Nachfrage bei der Polizei über die eingegangenen Strafanzeigen könnte ein wenigstens etwas genaueres Bild liefern. Doch gerade die gewaltaffine Fußballszenerie gilt als verschwiegen. Und die Polizei selbst ist längst in der Kritik, seit sich die Berichte über harte Zugriffe häufen.

 

Fotos bei Flickr über den Einsatz der Beamten in Leipzig


www.flickr.com/photos/110931166@N08/16595562794

Ein weiteres Problem in der Rückschau auch, wie bei jeder derart unübersichtlichen Situation, welche sich am 20. April zwischen Augustusplatz, Neuem Rathaus, Simsonplatz und Ring darstellte: Jeder erlebt das Geschehen aus seiner Perspektive und auch Journalisten konnten bei der eher dezentralen Situation rings um die Route von Legida nicht überall gleichzeitig sein.

 

Doch das Gesamtbild der Hinweise und Augenzeugenberichte am Tag danach macht eher betroffen. Auch die Instrumentalisierungsversuche und die Rohheit im Umgang miteinander haben die normalen Parameter einer demokratischen Auseinandersetzung längst verlassen – Legida geht es überdies eher darum, als Märtyrer dazustehen – verfolgt von Staat und Stadt.

 

Der bekannte Leipziger Journalist Thomas Datt meldete sich via Twitter bei der L-IZ.de: „Natürlich gab es aus der Rudolphstr. Steinhagel auf Legida. Traf mehrere Demonstranten. Und das mit der Horizontal-Rakete war knapp.“ Ein Video, welches von einem Legida-Anhänger mit dem Handy aufgezeichnet und bei Youtube eingestellt wurde, zeigt erst das heranfliegende Bengalfeuer, eine Silvesterrakete und anschließend einen undefinierbaren Gegenstand, welcher ein Farbbeutel oder ein Stein sein könnte.

 

Die Aufnahme aus dem Legida-Zug heraus

 

Ein weiterer Augenzeuge, welcher im hinteren Teil des Demonstrationszuges von Legida mitlief, berichtete anschließend gegenüber L-IZ.de per E-Mail seine Eindrücke zu den Attacken von Gegendemonstranten: „Steine sind sicher geworfen worden von der Gegendemoseite, da lagen einige ziemlich große auf der Straße, etwas vor dem Bengalofeuer, hatte auch die Polizei mitbekommen. Mit einer Rakete wurde von Gegendemonstranten beim Rückweg auf den Legida-Demozug geschossen, nahe des Bengalofeuers (von der Parkanlage rechts), dies geschah kurz vor mir. Auf dem Hinweg des Rundganges gab es auch einen Flaschenwurf auf den Demozug.“

 

Dies also die Perspektive aus dem Demonstrationszug von Legida heraus. Interessant zu erfahren wäre wohl auch, wie sich die gleichen Demonstranten fühlen würden, wenn sie die Erfahrungen der Gegendemonstranten gemacht hätten?

 

Während also bereits am gestrigen Abend Legida-Veranstalter Silvio Rösler die von Gewalt betroffenen Anhänger aufforderte, sich an der Bühne zu melden, um die jeweiligen Vorgänge zur Anzeige zu bringen, sahen sich manche Gegendemonstranten von NoLegida bereits vor dem Start des Demonstrationszuges einer ziemlich einsatzfreudigen Polizei gegenüber. Diese beräumte, entgegen allen sonstigen Einsatzregeln, ohne weitere Vorwarnungen oder Ansprachen mindestens einen Blockadeversuch mittels Pfefferspray und Schlägen. Statt die wenigen Blockierer gegebenenfalls beiseite zu tragen, wandten diverse Beamte Gewalt gegen passive, also nicht attackierende Protestierer an.

 

Da es sich bei einem Blockadeversuch juristisch gesehen um eine Ordnungswidrigkeit handelt, darf man es durchaus so vergleichen: Man stellt seinen Wagen im absoluten Halteverbot ab und die heraneilende Polizei sprüht erst CS-Gas in die noch offenen Augen, um einen anschließend über die Straße auf die nächste Grünfläche zu zerren.

 

Nach Videoaufnahmen des MDR trat überdies bei der Blockaderäumung ein Beamter ohne Anlass auf einen sitzenden Blockierer ein. Und überschritt in diesem Moment deutlich das, was man in einer Uniform veranstalten sollte.

 

Hier auf MDR.de zu sehen


www.mdr.de/mdr-aktuell/video266156.html

 

Äußerte sich zum Beginn des gestrigen Abends Polizeisprecher Andreas Loepki gegenüber dem MDR dezidiert ruhig zum vorab auf dem indymedia verbreiteten, anonymen Gewaltaufruf, wirkte das Vorgehen der Einsatzbeamten konträr bei der Blockadeberäumung alles andere als normal. So verwies Loepki zurecht darauf, dass man den Aufruf zwar ernst nehme, aber es nicht neu sei, dass die „linksextremistische Szene Legida am Laufen hindern möchte. Insofern gehen wir damit professionell und ein Stück weit routiniert um.“.

 

Wieso dann jedoch bei einer gegenüber früheren Demonstrationen in Leipzig weit geringeren Zahl an Demonstranten auf beiden Seiten eine Miniblockade aus maximal 30 Personen derart attackiert wurde, bleibt wohl Thema der jeweiligen Einsatzpolizisten vor Ort. Routine war es jedenfalls nicht. Das zusätzliche Problem der friedlichen Protestierer: eine Anzeige scheint sinnlos, die Einsatzeinheiten halten meist dicht. Und eine wirkliche Innenrevision scheint es bei der sächsischen Polizei nicht zu geben.

 

Alles beim Gewohnten also? Wenn da nicht dieses MDR-Video wäre. Und die vielen Fotos im Netz.

 

Der MDR mit dem Liveticker und weiteren Videos (Interview mit Andreas Loepki)


www.mdr.de/sachsen/ticker-legida-leipzig102_zc-f1f179a7_zs-9f2fcd56.html

 

Dazu ergänzend ein Text unserer Social-Media-Redaktion zu den Debatten um Polizeigewalt auf Facebook


Da in unserer Redaktion bereits Menschen in ähnlichen Bereichen Verantwortung über bis zu 30.000 Menschen getragen und in Stresssituationen zum Wohle Dritter wahrgenommen haben, dürfen wir uns auch mal interner äußern: Es ist egal, welche Haltung man in einer solchen Einsatzposition selbst zum Thema hat. Es ist übrigens Pegida-Stil, hier eine politische Polizei, welche ihren Zielen zugeneigt sei, zu propagieren. Eine politische Polizei gab es mal, es waren immer Diktaturen, die solche Polizisten wollten und beförderten. Deshalb ja auch die Gewaltenteilung in Deutschland.

 

Es geht immer auch (neben dem Eigenschutz und dem Schutz der Versammlungsfreiheit) um den Schutz der Gesundheit der anwesenden Demonstranten, wenn Polizisten im Einsatz sind. Und um die Strafverfolgung bei Übergriffen. Wer also verfolgt, wenn Polizeibeamte selbst übergriffig werden? Wo ist der Schutz des Demonstranten?

 

Ganz gleich, welcher Farbe, Lebensweise oder Nationalität, der Schutz der Bürger vor Kriminalität muss das Handeln eines Polizisten leiten. Eine Sicht auf den eigenen Job, welche offenbar einigen Einsatzbeamten schwer zu vermitteln ist, wenn sie selbst zur handelnden Partei und teils zu Tätern werden. Dies ist vielleicht menschlich noch nachvollziehbar, rechtlich weniger. Aufgrund des eingeräumten Gewaltmonopols jedoch nicht zu dulden.

 

Hinzu kommt, dass die Polizei durchaus darauf achten sollte, welches Image sie in der Bevölkerung hat. Denn sie ist oft der erste Kontakt für Menschen in erregten Situationen und muss der Sonderrolle als Staatsgewalt besonders nachkommen. Baut sich hier Misstrauen auf, kann es schnell dazu kommen, dass so manche Anzeige gar nicht mehr gestellt wird. In gewissen Kreisen der Fußballkriminalität ist es längst soweit – das Recht wird auf eigene Faust wahrgenommen.

Was uns zurück zum Gewaltmonopol des Staates als eine Säule einer modernen Gesellschaft führt. Dies wird gerade durch Beamte unterminiert, welche sich in einer unangreifbaren Position glauben und irgendwann selbst für Unrecht sorgen. Sollte es hier so gewesen sein – und es sieht ganz danach aus – dann ist es eine Frage, der man auch in Einzelfällen als Presse und auch als Bürger dringend nachgehen muss. Egal wie schwer dies auch für alle Beteiligten werden könnte und egal, ob anschließend wieder nichts herauskommt – außer Schweigen.

 

Dies alles schreiben wir in Kenntnis und jahrelanger Begleitung von Polizeiarbeit in Leipzig. Und im Wissen, dass sich viele redlich in diesem Job bewähren und Respekt verdienen. Auch die gilt es zu schützen. Vor Kollegen, die ihre Arbeit mit Dreck bewerfen.