»Es ist ein lauer Sommerabend, dieser 15. Juli 1931. Ein Mittwoch. Hier im Südosten des Bluegrass State Kentucky, genauer gesagt im Harlan Country, dem viertgrößten Kohlerevier in den USA, steht Florence eigentlich wie jeden Abend in der Küche und macht den Abwasch. Morgen ist wieder Schule und es war ihr diesmal zu ihrer großen Überraschung geglückt, ihre sieben Kinder ohne viel Stress und sogar einigermaßen satt ins Bett zu bugsieren. Doch zur scheinbaren Normalität dieses Abends gesellt sich Angst. Aber vor allem Wut und Entschlossenheit. Ihr Mann, Sam, steht auf der schwarzen Liste. Sie weiß was das heißt. Er weiß was das heißt. Alle in ihrer kleinen Bergarbeitersiedlung wissen es.
Als im Frühjahr die Zechenbetreiber eine zehnprozentige Lohnkürzung 
durchsetzten wollen, gingen die Bergarbeiter auf die Barrikaden. Bei 
weniger als knapp zwei Dollar am Tag für eine Zehnstundenschichten 
stellte sich nur noch die Frage, ob sie lieber kämpfend als arbeitend 
hungern wollten. Hilflos, spontan und unorganisiert begannen sie sich zu
 wehren. 3000 Kohlekumpel, unter ihnen auch Sam, gründen die 
Gewerkschaft United Mine Workers (UMW) und treffen auf die Macht der 
Kohlebosse: Einschüchterung, Zwang, Unterdrückung, Übergriffe, Mord, und
 eben diese schwarzen Listen. Sam ist deshalb untergetaucht. Florence 
nicht.
Jetzt nur noch eben die Gabeln und dann hat sie es endlich. Endlich ins 
Bett, endlich abschalten, endlich die Sorgen hinter sich lassen. Wooom, 
Wooom, Wooom. Es hämmert an die Tür. Sie zuckt zusammen. Da sind sie 
also wirklich, die Schergen von John Henry Blair, dem von den 
Kohlebaronen umschmeichelten Countrysheriff. Florence hatte sie 
erwartet, doch jetzt schießt ihr die Panik in den Kopf. Ihr wird 
schlecht. Sie will sich übergeben, am liebsten aber abhauen. Einfach 
wegrennen. So wie Sam. 
Doch jetzt ist eh alles zu spät. Noch immer mit den Händen im 
nunmehr fettigen Abwaschwasser ballt sie ihre Fäuste, die Haut schon 
ganz aufgequollen. Sie schluckt die Panik runter – in ihrer Theorie war 
das allerdings um einiges einfacher. Doch es geht. Es muss gehen.
Wooom, Wooom, Wooom. Hämmert es erneut. Jetzt wird es also ernst. Sie 
geht zur Wohnungstür und öffnet. Ein Dutzend Hilfssheriffs stürmt 
herein. Sie schubsen Florence durch die Wohnung, reißen die Kinder aus 
Betten, drohen, schreien „Wo ist Sam?“ „Wo ist Sam?“, schlagen auf die 
Acht ein, verwüsten die Zimmer.
Vorbei. Sie sind endlich weg. Es dauert noch einige Zeit, bis Florence 
die Kleinen einigermaßen beruhigt bekommt. Doch jetzt herrscht Stille. 
Sie hat es überstanden. Aus ihren Augen funkelt Hass. Ihre Panik ist wie
 weggeblasen. Sie geht wieder in die Küche. Der alte Baptist*innensong 
„Lay the Lily Low“ bahnt sich aus den Tiefen ihres Gehirn den Weg über 
ihre Lippen, tausendmal gesungen im Gottesdienst der kleinen 
Siedlungskapelle. Doch diesmal ist es anders, diesmal ist es ihr Text. 
Sie reißt den Küchenkalender von der Wand und kritzelt ihre Gedanken zu 
Papier. Heraus kam wohl DIE Hymne der amerikanischen 
Gewerkschaftsbewegung. Sie stellt nur eine einfache Frage, deren Antwort
 über so viel entscheidet: „Which Side Are You On?“ 
Und diese schlichte Frage haben wir dieses Jahr auch zum Motto unserer 1. Mai-Demonstration auserkoren. Denn zum nunmehr zwanzigsten Mal wollen wir in der Tradition des Haymarket Riot`s von 1890 auf unsere Weise ein gutes Leben für alle einfordern. Aber um ehrlich zu sein, haben wir keinen Plan, wie dass zu bewerkstelligen wäre. Dass es so wie es ist, nicht bleiben darf, ist eine Binsenweisheit. Also heißt es für uns – ganz im zapatistischen Sinne – fragend voranzuschreiten. Klingt pathetisch, nichtssagend und abgehoben – und das ist es auch. Die Frage die Florence, also Florence Reece, bis zu ihrem Tod im Jahr 1986 umhertrieb, die ihr Mut gab und die Kraft zum Durchhalten ist da schon um einiges konkreter:
Auf welcher Seite stehen wir, wenn islamistische Milizen oder die Türkei versuchen, die Ansätze von Selbstorganisierung und Daseinssicherung im kurdischen Rojava und die dort lebenden Menschen auszulöschen? Und auf welcher Seite stehen wir, wenn die Menschen dort die Waffe in die Hand nehmen, um sich, ihre Familien und ihre Nachbar*innen und ihren Versuch eines besseren Lebens zu verteidigen?
Wo stehen wir, wenn die Menschen in Griechenland unter der Last der Sparauflagen der Troika das Auskommen, die Unterkunft und die Gesundheitsvorsorge verlieren? Und wo, wenn diese Menschen versuchen, auch durch die Partei Syriza diese humanitäre Katastrophe abzuwenden.
Auf welcher Seite stehen wir, wenn Leute in Guinea, dem Jemen oder im Kosovo aufgrund der globalen Wirtschaftsordnung finanziell ganz tief in der Scheiße sitzen und nicht wissen, wie sie am nächsten Tag ihre Nahrung bezahlen sollen? Und wo stehen wir, wenn sich diese Menschen auf der Suche nach einer besseren Zukunft nach Deutschland kommen?
Einfache Fragen, einfache Antworten. Eigentlich. Denn ganz so einfach
 ist das alles dann doch nicht. Die Welt ist viel zu widersprüchlich, 
als dass sie mit starrem schwarz-weiß Denken aus den Angeln gehoben 
werden könnte. Aber sie ist auch nicht so verworren, dass man nicht 
Partei ergreifen könnte. „Als Linker steht man auf der Seite der 
Unterdrückten – bedingungslos“ sagte mal ein guter, leider inzwischen 
verstorbener Oldenburger Genosse. Wenn einem Menschen Rechte 
vorenthalten werden, weil er woanders geboren wurde, sollten wir wissen 
wo wir stehen. Wenn einem Menschen der Lohn gekürzt wird, weil ein 
anderer sich seine Yacht finanzieren will, sollten wir wissen wo wir 
stehen. Wenn ein Mensch nicht respektiert wird, weil sein Geschlecht als
 schwach oder unnormal gilt, sollten wir wissen wo wir stehen. Wenn ein 
Mensch wenig verdienen soll, weil er die „falsche“ Ausbildung hat, 
sollten wir wissen wo wir stehen. Bedingungslos! So einfach ist das. Und
 so kompliziert. Denn Unterdrückte können auch unterdrücken – und tun es
 leider auch. Die Betroffenen von Rassismus oder Sexismus oder 
Klassenherrschaft sind oft mit dabei, wenn es darum geht nach unten zu 
treten oder mit völkischem, religiösem oder antisemitischen Wahn ihre 
eigene Unterdrückung zu stützen. Doch das gute an Barrikaden ist, dass 
sie mobil sind. Man kann sie errichten, abbauen, umsetzen. Man kann mit 
Menschen auf der gemeinsamen Seite der Barrikade stehen und darauf 
hoffen, dass es zusammen nach vorne geht. Und man kann erkennen, dass 
mit einigen von diesen dann vielleicht doch kein Fortschritt zu machen 
ist und die Barrikade auch noch woanders hingehört.
Aber gerade wir in der autonomen Linken mit unseren schablonenhaften, 
dafür aber umso markigeren Parolen sowie unseren akademisch verstiegenen
 und unzugänglichen Theoriegebilden pochen nur allzu gern darauf, quasi 
als letzte moralische Instanz vor Gott, Adorno oder Marx als das Maß 
aller Dinge zu gelten. Vielleicht sollten wir mal anfangen, die Anderen 
nicht zuallererst als potentiell feindliche Kräfte zu begreifen oder 
deren angebliche Inkonsequenz zu belächeln, sondern sie als 
ZeitGENOSS*INNEN zu betrachten, die zu radikalisieren unser Anliegen 
sein sollte. Und ehrlich gesagt, die Chance, dass wir von Ihnen auch 
eine Menge lernen können, ist alles andere als gering.
David Graeber äußerte im Dezember 2014 den Verdacht, dass viele in der 
internationalen, radikalen Linken eigentlich nicht gewinnen wollen. „Die
 können sich nicht vorstellen, dass eine Revolution wirklich stattfinden
 kann, und insgeheim wollen sie die auch nicht, denn das würde bedeuten,
 dass sie ihren coolen Verein mit normalen Leuten teilen müssten – sie 
wären nichts Besonderes mehr“. Sich als „revolutionäre Avantgarde“ zu 
begreifen, fällt natürlich ungleich schwerer, wenn jederzeit die Gefahr 
besteht, während eines Vorbereitungstreffens oder einer Demonstration 
den eigenen Eltern über den Weg zu laufen.
Aber natürlich gibt es auch gute Gründe für einen kritischen Blick der 
autonome Linken. Wir wollen schließlich mehr als nur ein paar Krümel. 
Wenn im Gesellschaftsvertrag von Rojava das Recht auf Eigentum und 
Privateigentum festgeschrieben wird, sollte eine radikale Linke das 
kritisch sehen. Wenn Syriza sich den Spielregeln des Parlamentarismus, 
des Kapitals und der EU unterwirft, sollte eine radikale Linke das 
kritisch sehen. Wenn Flüchtlingsinitiativen damit argumentieren, dass 
gut ausgebildete Migrant*innen dem Wirtschaftsstandort Deutschland 
nützlich seien, sollte eine radikale Linke das kritisch sehen. 
Natürlich. Aber was folgt daraus? „Grundsatzdebatten über den Weg zum 
Sozialismus sind wunderbar“, sagte Giorgos Chondros vom Zentralkomitee 
von Syriza bei den Blockupy-Protesten in Frankfurt. „Aber meiner Mutter 
wurde die Pension auf 400 Euro halbiert“. Lohnt es sich nicht, für 
diesen Krümel zu kämpfen? Woraus soll denn der Kuchen sonst gemacht 
werden? Und auf welcher Seite stehst du?
Also noch mal 20, 40, 60, … Jahre für Freiheit und Solidarität auf die Straße!«
Autonome 1. Mai-Demo # 13 Uhr # Kaiserstr./Hbf # Oldenburg
Quelle: regentied.blogsport.de

