Die "ganz Schwarzen" von Leubnitz Khaled I. war ein Flüchtling aus Eritrea. er wurde nur 20 Jahre alt. Er wurde erstochen. Der Mann, nach dem die Straße benannt ist, war Komponist: Johannes Paul Thilman. Er war Mitglied der NSDAP und Schöpfer der Musik zum 1935 aufgeführten Festspiel „Ein Volk stand auf“. 70 Jahre später strahlt die Straße, die nach ihm benannt ist, alles andere als Pathos aus. Sie liegt in einem Plattenbauviertel im Dresdner Stadtteil Leubnitz. Auf den Glas-, Papier- und Altkleidercontainern prangen Graffitis und Huldigungen an Dynamo Dresden. Im ersten Stock des Sechsgeschossers mit der Hausnummer 8 sind die Lamellenvorhänge halb heruntergelassen. Blitzlichter erhellen die Wohnung. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung der Kriminalpolizei macht Fotos.
Auf der Klingel für die Vier-Raum-Wohnung mit der Nummer 2.02 stehen fünf Namen. Einer von ihnen lautet Khaled I. Das ist ein 20 Jahre junger Mann aus Eritrea. Ein Flüchtling. Er ist tot. Erstochen. Die Obduktion habe ergeben, dass er an mehreren Messerstichen in Hals und Brust starb, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft Dresden. Man ermittle wegen Totschlags.
Auf dem Bürgersteig steht ein Mann mit Stiernacken, Ende 20. Neben ihm sein Hund, ein schwarzer Mischlingsrüde. Das Halsband hat silberne Sterne und Zacken. „Das musste ja so kommen“, sagt er. Das sei typisch für das Viertel hier. Oben am Hang in den Einfamilienhäusern, sagt er, da wohnten die Gutverdienenden. Darunter, in den sanierten Plattenbauten der Wohnungsgenossenschaft, die Mittelschicht. Und hier unten, an der Thilman-Straße, „die Assis und Asylanten“. Eigentümer der Gebäude ist Dresdens größter Vermieter, der Immobilienkonzern Gagfah. Und egal wen man fragt: Alle beklagen, die Gagfah habe so gut wie nichts investiert in den vergangenen zehn Jahren.
Das ist auch dem Haus mit der Nummer acht anzusehen. Im Eingangsflur hängt ein Elektrokasten mit Drehsicherungen. Stromkabel verlaufen über Putz. Die Risse in den Wänden sind nur übermalt.
Der Mann in der Wohnung über der von Khaled I. ist sichtlich geschockt. Mit solch einem Verbrechen habe er nicht gerechnet, sagt der Mittdreißiger. Auch nicht, als ihm kurz vor Silvester zwei Hakenkreuze auf der Wohnungstür der Asylbewerbergemeinschaft auffielen. „Jemand hat die mit einem Edding-Stift da draufgeschmiert“, sagt er. „Und im September oder Oktober hat jemand ,Juden töten‘ an die Wand im Erdgeschoss geschrieben.“ Eine Malerfirma habe die Schmierereien kurz darauf wieder entfernt. Er habe keine Probleme mit den Asylbewerbern, sagt der Nachbar. „Die sind nett und freundlich, unterhalten sich ruhig.“ Doch nun ist auch ihm alles zu viel geworden: „Ich habe Angst. Am liebsten würde ich ausziehen.“
Die unbekannten Afrikaner
Die Polizei forscht derweil nach den Hintergründen. Täter und Umstände des Geschehens seien noch unbekannt, sagt Staatsanwaltschaftssprecher Lorenz Haase. Auch die Tatwaffe sei bisher nicht gefunden worden. Die Mordkommission wurde personell aufgestockt, sie konzentriert sich auf die Befragung der Mitbewohner des Afrikaners. Noch am Dienstag hatte die Polizei mitgeteilt, für Fremdeinwirkung gebe es keine Anhaltspunkte.
An der Ecke Thilman-/Otto-Reinhold-Straße schleppt eine Frau ihren Einkauf in einer Plastiktüte nach Hause. Seit 20 Jahren lebe sie hier in dem Viertel, sagt sie. „Gott sei Dank nicht mehr lange.“ Sie ziehe bald weg, sagt die 56-Jährige. Das sei hier nicht mehr zum Aushalten. Vor allem die Arbeitslosen machten im Sommer die Nacht zum Tag. Nicht die Asylbewerber. „Von denen bekomme ich gar nichts mit, höchstens mal beim Netto, wenn die einkaufen.“
Das Einkaufszentrum nennt sich „Leubnitz-Treff“. Der Verwalter wirbt mit dem Spruch „Ein Center zum Verlieben“. Mit Einbruch der Dunkelheit beginnt ein Wachmann, seine Runden um den sterilen Betonbau zu drehen. Ob ihm Vorfälle mit Asylbewerbern bekannt sind? Mit der Presse rede er nicht, sagt er.
Die Konsumwelt der Thilman-Straße besteht aus einem Asia-Imbiss, dem Kebabladen „Yeni Urfa“, dem Textilhändler Kik, dem Friseursalon Christine, einem Küchenstudio, einem Presse- und Tabakshop, dem Spielcenter „El Dorado“ und dem Discounter Netto. Im Foyer des Supermarkts, dort wo die Bäckerei Richter ihre Brötchen verkauft, kennen die Leute nur ein Thema. Sie tuscheln über „Mord“, „Messerstecherei“, „Bullen“, „Asylpack“.
Die Verkäuferin der Bäckerei ist sehr nett. Sie lächelt, wenn sie bedient. Sie hat kurze rot-braun gefärbte Haare. Sie ist Mitte 50. Die Hälfte ihres Lebens wohne sie schon in dem Viertel. „Im Getto“, sagt sie. Alles sei schlechter geworden. Die Langzeitarbeitslosen wären Alkoholiker geworden. Dann seien die Drogenabhängigen gekommen und zum Schluss die Ausländer. „Mindestens 30 sind das hier.“ Die Muslime aus Nordafrika seien ja Gott sei Dank im Herbst rausgeholt worden. Zu acht wären die gemeldet gewesen, „tatsächlich haben die mit 20 Leuten in einer Wohnung gehaust. Alleinstehende Kerle.“ Sie lächelt jetzt nicht mehr. Sie wird wütend, nimmt Fahrt auf. „Wir haben zwar jetzt nur die Afrikaner, aber es sollen ja schon wieder neue kommen.“ Welche neuen? „Na die, die die feinen Leute von Laubegast jetzt nicht mehr kriegen.“ In diesem Dresdner Stadtteil hat der Eigentümer eines Hotels sein Angebot für die Unterbringung von Flüchtlingen kurzfristig zurückgezogen, weil es nach seinen Angaben zu viele Drohungen und Beleidigungen gegen ihn gab.
In Leubnitz sind Flüchtlinge aus Eritrea, Äthiopien und Somalia dezentral untergebracht. Sie leben dort in Wohngemeinschaften. Die Bäckersfrau spricht von den „ganz Schwarzen“. Die hätten nichts zu tun und würden mit ihren großen Netto-Taschen nur Bier kaufen. „Retter-Bier“, sagt sie, „das Billigste vom Billigsten. Wir nennen es Bananenbier.“ Vor dem Einkaufsmarkt würden die Asylanten dann rumgrölen und junge Frauen anmachen.
An diesem Nachmittag stehen draußen sechs junge Männer. Weiße. Kräftige Typen. Sie trinken „Sternburg“, das ist nicht viel teurer als „Retter-Bier“. Ob ihnen das auch schon aufgefallen sei, das mit der Anmache? „Von der Presse, hä? Verzieh dich. Wir sagen nichts.“ Dann sagt doch einer was: „Wenn ich das gesehen hätte, das mit der Anmache, dem hätte ich gleich die Fresse poliert.“
Kindesmund tut Wahrheit kund
Im Innenhof der vorderen Thilman-Straße ist ein Spielplatz. Auf einem neuen Klettergerüst aus Holz mit Hängebrücke tollen ein paar Kinder. Eine junge Frau, Ende 20, lange blonde Haare, passt auf. Auch sie will zunächst nichts sagen, aus Angst, man würde sie wiedererkennen. Dann fasst sie sich doch ein Herz. „Ich bekomme von den Asylbewerbern im Haus nichts mit“, sagt sie. Dabei habe sie gar nichts gegen Kontakte. „Doch die Sprachbarriere ist zu hoch. Die sprechen kein Deutsch, nicht mal Englisch.“ Sie habe den Eindruck, dass die Männer aus Afrika ihrem Schicksal überlassen blieben, sie habe noch nie mitbekommen, „dass da mal ein Betreuer oder so was kommt“. Und inzwischen betreue sie Kinder, die die Schwarzafrikaner als „Ebola-Äffchen“ bezeichnen würden.
Vom Hintereingang der Hausnummer 8 führt ein Weg aus Waschbeton-Platten zu den Wäscheleinen. Zwischen der elften und der dreizehnten Platte liegen drei Blumensträuße und ein Dutzend weiße Rosen. Die vier Tagesbrenner-Kerzen sind erloschen. An dieser Stelle wurde die Leiche von Khaled I. entdeckt.
Auf den zwei Bänken an den Wäscheleinen sitzen vier Jugendliche, siebtes bis zehntes Schuljahr. Sie gehen auf die 116. Oberschule. Auf Facebook hätten sie von der Tat gelesen, sagen sie. „Morgenpost und Polizeibericht Dresden sind unsere Freunde.“ Ob sie Blumen niederlegen wollen? „Nö“, sagt der jüngste. „Wir sind zum Chillen gekommen.“