Vom 13. - 26. Oktober 2014 haben wir unter map.nadir.org die bis dato größte gemeinsame EU-Polizeioperation zum Zweck der Verfolgung und Ausweisung vermeintlich illegaler Flüchtlinge, genannt „mos maiorum“, dokumentiert. Auf unserer Website konnten Menschen, die rassistisch motivierte Polizeikontrollen beobachteten oder selbst Ziel davon wurden, diese in verschiedenen Kategorien (Kontrollen an Flughäfen, in Zügen, Razzien usw.) eintragen und somit weithin sichtbar machen. Wir haben damit für knapp zwei Wochen aufgezeigt, mit welchen immensen Ressourcen die Staaten der Europäischen Union Jagd auf illegalisierte Migrant_innen auch innerhalb der Grenzen der Festung Europa organisieren und betreiben. Unsere Erfahrungen haben wir in zwei Berichten, einen zur Mitte der Operation, sowie einen zum Abschluss zusammengefasst und veröffentlicht.
Mit diesem Text wollen wir nun, gut zwei Monate nach dem vorläufigen Abschluss des Projektes, einige der vielen Handlungsperspektiven diskutieren, die wir basierend auf den Erfahrungen aus „Map Mos Maiorum“, sehen:
Die von uns eingesetzte Software "Ushahidi" hat als offenes System (in dem Einträge dennoch freigeschaltet werden müssen) gut funktioniert. Die relativ niedrige Hemmschwelle zur Benutzung der Website hat die Menschen nicht abgeschreckt und die Karte eignete sich, um die Dimensionen der Polizeioperationen deutlich zu machen.
Um ein vollständiges Bild einer derart großen, verteilten Operation zu zeichnen, bedarf es auch einer ebenso großen kritischen Masse an User_innen, die Inhalte in die Karte einstellen. Diese kritische Masse haben wir nur punktuell erreicht, sodass die Karte nur einen Bruchteil der wahrscheinlich stattgefundenen Kontrollen zeigte. Gut funktioniert hat die Beteiligung an „Map Mos Maiorum“ dort, wo sich bereits starke lokale antirassistische Bewegungen und/oder Netzwerke organisiert und etabliert hatten. Die Dichte an Reports, ihre Genauigkeit und vor allem die kurze Reaktionszeit dieser Netzwerke haben die Karte in solchen Regionen detailliert gestaltet. Sie wurde so teils auch über den Status eines bloßen Dokumentationstools erhoben und eröffnete neue Handlungsperspektiven für Proteste oder als aktives Warnsystem für die Betroffenen.
Dennoch ist es uns nicht gelungen, die Aktivität von aus dem Netz auf die Straße zu bringen. Es gab (so gut wie) keine Protestaktionen, die in direktem Zusammenhang mit der Karte standen (soweit wir das wissen). Um diese Aktivitäten zu ermöglichen und somit weg vom reinen "Clicktivismus" zu kommen, müssen gewisse Voraussetzungen geschaffen werden:
Die Karte muss aktuell sein, d.h. die Dauer zwischen dem Eintragen eines unbestätigten Eintrages und dem Erscheinen als bestätigter Report muss möglichst kurz sein. Um die Karte nicht mit Falschmeldungen oder doppelten Einträgen zu überfrachten, ist jedoch ein Moderationskonzept unerlässlich. Wir haben im Moderationsteam festgestellt, dass wir selbst bei vielen Einträgen zum Flaschenhals des gesamten Projektes werden. Bei einer noch größeren Verbreitung und der engeren Einbindung sozialer Netzwerke kann das dazu führen, dass Menschen demotiviert werden, weil ihre Einträge gefühlt viel zu spät auf der Karte erscheinen. Somit wird es auch schwierig, lokale Aktionen einzubinden und so eine (neue) Dynamik zu entwickeln. Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnten lokal vernetzte „trusted Reporter“ sein, welche Accounts bekommen, mit denen sie (für eine bestimmte Region) in die Lage versetzt werden, sofort freigeschaltete Postings zu erstellen.
Um den lokalen Bezug zu verdeutlichen könnten lokale Einstiegspunkte für die Karte geschaffen werden, die zum Start Einträge aus einer bestimmten Region zeigen und von Aktivist_innen aus dieser Gegend moderiert werden. Dies würde zudem auch verdeutlichen, welche Ausschnitte der „globalen“ Karte wirklich detailreiche Dokumentationen zeigen und wo die eigene Reichweite vielleicht noch begrenzt ist (Bei Betrachtung der aktuellen Version der Karte mag der Eindruck entstehen, sie würde ein vollständiges, europaweites Bild repräsentieren – was wir realistischerweise nicht für uns beanspruchen möchten).
Darüber hinaus sollten die technischen Hürden für das Einreichen von neuen Reports weiter abgebaut werden. Dabei kann z.B. die bessere Einbindung von Twitter (Auslesen von Geodaten bei Posts mit einem bestimmten Hashtag, Erkennung von Retweets, ...) und anderen sozialen Netzwerken helfen.
Bislang auf ein bestimmtes Ereignis (Aktionstag, Polizeioperation, Gipfeltreffen, …) beschränkte Praktiken in den (eigenen) Alltag zu überführen ist eine der schwierigsten Aufgaben für politische Aktivist_innen. Es benötigt neben der Vernetzung von ausreichend vielen Aktivist_innen vor allem vermittelbare und klare Aktionskonzepte. Das Melden von rassistisch motiverten Polizeikontrollen stellt hier keine Ausnahme dar. Zum Start von „Map Mos Maiorum“ gab es neben der Dokumentation der Polizeioperation kein solches Aktionskonzept. Diese Konzepte müssen in Abstimmung mit Aktivistist_innen aus den bestehenden antirassistischen Gruppen und Netzwerken immer wieder erarbeitet, vermittelt und dann ausprobiert werden, um sie dauerhaft verankern zu können.
Jedoch lässt sich ein Tool wie "Ushahidi" auch für politische Events sinnvoll nutzen. Wichtig ist aus unserer Sicht, dass eine solche Karte als eines von vielen Werkzeugen gesehen wird, welches in ein größeres Gesamtkonzept eingebunden wird und genug Raum für dynamische Entwicklungen in der Nutzung der Karte (neue Kategorien, „Hacks“ der User_innen, …) vorgesehen wird.
Essentiell ist hier eine langfristige Abstimmung/Einbettung in die Vorbereitungen zum Event, um die Karte auf die jeweiligen Bedürfnisse und Rahmenbedingungen zuzuschneiden. Verschiedene Szenarien und Aktionskonzepte müssen behandelt und miteinander abgestimmt werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Vorbereitung auf ein Event ist, sich vorher auch auf den eigenen Erfolg gefasst zu machen. Wir wurden im Verlauf von "mos maiorum" mit Presseanfragen konfrontiert, auf die wir nicht in allen Fällen mit der gebührenden Sorgfalt und Geschwindigkeit eingehen konnten. Bei größeren Events mit starker Medienaufmerksamkeit ist zudem auf eine geeinete Hardware zu achten, die auch einem Hackangriff oder einer DDoS-Attacke standhalten kann.
Karten, wie die von „Map Mos Maiorum“, können einen starke politische Repräsentation der Wirklichkeit zu darstellen. Sie repräsentieren einen bestimmten Ausschnitt oder eine Perspektive auf eine Situation und sind in ihrer Wirkung politisch, auch über die Darstellungen von Information hinaus. Das Kommunikationsdesign (das Erscheinungsbild und wie es im Zusammenhang mit der bezweckten Aussage steht) eines solchen Projektes ist deshalb immens wichtig und sollte ähnlich wie das Aktionskonzept die Kernpunkte des Projektes klar repräsentieren. Dies ist nicht immer einfach und nicht immer möglich.
Alleine die Frage, ob die Verwendung des „Refugees Welcome!“-Logos auf „Map Mos Maiorum“ ein klares Statement für Refugees oder angesichts der Polizeioperation nicht doch eher ein ungewollt zynischer Kommentar war, lässt sich lange diskutieren.
In diesem Punkt ist es hilfreich, vorab ein durchgängiges Kommunikationsdesign und Konzept zu entwerfen und dies von möglichst vielen Menschen diskutieren zu lassen. Sobald die eigene Anwendung live geht, ist am ersten Eindruck nicht mehr viel zu ändern.
„Map Mos Maiorum“ wird von uns in dieser Form nicht weiter betrieben werden. Wir arbeiten aber weiter an neuen Projekten, in denen wir die geschilderten Handlungsperspektiven austesten möchten. Bereitet euch also darauf vor, in der einen oder anderen Form wieder von uns zu hören. Wir würden uns sehr freuen, wenn sich Menschen melden, die Interesse daran haben, eine Karte wie diese in ihrer politischen Kampagne verwenden wollen, Hilfe bei einer eigenen Installation benötigen oder vielleicht eine ganz neue Idee haben, wie man es nutzen kann.
Wir sind gerne bereit, solche Projekte zu unterstützen - meldet euch bei uns: mapmosmaiorum@riseup.net (PGP-Key).
Download csv-datei von map-mos-maiorum
Die vollständigen, anonymisierten Daten zu all unseren Reports stehen im csv-Format zum Download zur Verfügung. Sie basieren auf Ushahidi in Version 2.7.4. Die Karte unter http://map.nadir.org wird als statische Website weiterhin verfügbar sein, allerdings können keine neuen Reports eingestellt werden.