Von Jan Sternberg
Berlin. "Willst du Gras?" "Nein, danke." "The best, I have the best." "Nein." "Look here." "No."
Es ist ein Spießrutenlauf geworden, in den Park zu gehen. An den 
Eingängen stehen die Dealer dicht an dicht, im Park fahren sie mit 
Mountainbikes auf und ab, treten Passanten in den Weg. In den 
Seitenwegen suchen vornehmlich afrikanische Männer offensiv Blickkontakt
 zu jedem potenziellen Kunden. Nur wer zu Boden schaut, bleibt 
unbehelligt. 
Außerhalb der verwahrlosten Grünflächen des Görlitzer Parks setzt sich 
der Spießrutenlauf fort. Als Fußgänger im Kreuzberger Kiez unterwegs zu 
sein heißt permanent abchecken, abwehren, ausweichen. Nur auf der Treppe
 zur U-Bahn ist es besser geworden, seit dort ständig Uniformierte 
stehen. Die Dealer sind auf die Straße ausgewichen, blockieren zumindest
 nicht mehr den Strom der Fahrgäste.
Saddiq aus Gambia steht im Park, ein schlanker Zwei-Meter-Mann in einer 
schicken wattierten Jacke. "Ich habe Abitur", sagt er stolz, "ich bin 
wahrscheinlich besser gebildet als viele der Weißen hier. Ich verkaufe 
nicht Drogen, weil ich blöd bin, sondern weil ich in Deutschland nichts 
anderes arbeiten kann." Es beginnt zu dämmern, Saddiq tänzelt unruhig 
hin und her. Seit einer Woche ist sein Geschäft anstrengender. Jeden 
Nachmittag kommt jetzt die Polizei. "Sie jagen uns und schlagen uns", 
beschwert er sich, "die Araber am Parkeingang aber lassen sie in Ruhe, 
obwohl die Härteres verkaufen."
Drogenkrieg in Kreuzberg? Vor einer Woche hat der Wirt einer Shisha-Bar 
zwei jugendliche Gambier niedergestochen. 70-mal, so berichtet es die 
lokale "taz", habe er zuvor die Polizei gerufen, weil es ihm das 
Geschäft kaputt macht, dass vor seiner Tür Gras verkauft wird. Die 
Polizei kam, die Dealer kamen wieder. Nun ist die Bar geschlossen, die 
Scheiben sind zersplittert. Nach der Bluttat kamen die Freunde der 
Angegriffenen und verwüsteten die Bar. Manche fragten, wann es den 
ersten Toten geben wird. Und die Berliner Politik wurde hektisch. Am 
heutigen Dienstag soll sich erstmals eine Taskforce unter Beteiligung 
von Polizei, Bezirk, Justiz und Ausländerbehörden zusammensetzen und ein
 Konzept zur Befriedung des Parks erarbeiten.
Seit Jahren wird im Görlitzer Park gedealt. Da muss die Taskforce erst 
einmal diese Fragen beantworten: Warum wird erst jetzt an einem Konzept 
gearbeitet? Und: Warum wurde so lange ein offensichtlich rechtsfreier 
Raum geduldet, mitten im boomenden Berlin?
Die Antwort auf beide Fragen lautet: Im Görlitzer Park, kurz und schön 
"Görli" genannt, wurde der Kreuzberger Traum von maximaler Toleranz bei 
gleichzeitiger dörflicher Gemütlichkeit geträumt. Die Hippiedroge 
Cannabis passte so gut zu dieser Identität, dass die meisten Anrainer 
lange akzeptierten, dass die Grüppchen von Dealern im Park standen. 
Lange störten sie ja auch niemanden. Sie saßen auf ihren Bänken, und 
nur, wer direkt auf sie zusteuerte, gab sich als potenzieller Käufer zu 
erkennen. Gekauft haben nicht wenige aus dem Kiez und die Touristen 
natürlich auch. Die Touristen wurden immer mehr, die Dealer auch. Die 
grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann schätzt, dass inzwischen 
etwa 200 Drogenhändler in dem Park aktiv sind. Im Sommer hatte der Görli
 seinen Ruf weg: Hier kommt es nicht mehr drauf an, hier ist alles egal.
 Der Traum von der Toleranz war geplatzt.
Lorenz Rollhäuser, 61, lebt seit 20 Jahren im Kiez. Von unten dringt der
 Görli-Lärm in seine Dachwohnung. Das pralle Leben. Das mag er. Dennoch 
denkt Rollhäuser jetzt manchmal darüber nach, wie es wäre, "in eine 
entspanntere Gegend" zu ziehen. Entspannt - das war Kreuzberg immer und 
gleichzeitig an vorderster Front der Großstadtkonflikte: Miethaie, 
besetzte Häuser, Straßenschlachten. Und immer wieder Drogen, Armut, 
Integrationsdebatten. Heute sagt Rollhäuser: "Das waren alles deutsche 
Luxusprobleme. Wir haben doch nie was mitgekriegt vom Elend auf der 
Welt. Bis jetzt. Da draußen geht es ums Überleben. Da stehen Menschen, 
die nirgends auf der Welt einen Platz haben. Und nun sind sie hier." Da 
hilft Wut nicht weiter, sagt sich Rollhäuser, wenn er mit seinem Fahrrad
 durch das Dealerspalier schiebt. Das muss er jetzt aushalten. 
Der Bezirk wollte einen mutigen neuen Umgang mit dem Flüchtlingselend 
und den Drogen finden. Ein Aushängeschild grüner Politik. Es wurde zum 
Desaster. Bürgermeisterin Herrmann hat das von Flüchtlingen besetzte 
Schulgebäude in Parknähe lange nicht räumen lassen. Nun will sie, aber 
darf nicht, ein Gerichtsbeschluss verbietet es. Die Kosten für den 
Wachschutz an der Schule sprengten den Bezirksetat. Dann wollte Herrmann
 den Cannabis-Schwarzmarkt durch ein Pilotprojekt des legalen 
Drogenverkaufs austrocknen. Der Antrag für einen Coffeeshop ist indes 
immer noch nicht gestellt. Und Herrmann bekannte jüngst: "Es gab 
Situationen, wo mir nichts mehr einfiel."
Lorenz Rollhäuser hat eine Anwohnerinitiative gegründet, die sich um den
 Park kümmern will. Er spricht nicht von "zurückerobern", denn er will 
jene nicht locken, die gerne eine Bürgerwehr gründen würden. Auch so ist
 es schwierig genug. Rollhäusers Gruppe trifft sich nicht mehr 
öffentlich, nachdem linke Aktivisten eine Veranstaltung gesprengt haben.
 Wer davon redet, den Park sicherer zu machen, sei ein Rassist und 
leiste der Gentrifizierung Vorschub, bekam Rollhäuser zu hören: "Es ist 
eine schmähliche Niederlage, dass wir uns nicht als Anwohner einig 
werden über ein Mindestmaß an Maßnahmen." 
"Toleranz wurde zur Monstranz", sagt Timur Husein, "und dann zur 
Ignoranz." Er macht eine Pause und sagt es dann noch einmal kürzer: "Aus
 Toleranz wurde Ignoranz." Timur Husein ist in Kreuzberg geboren und 
aufgewachsen, er wohnt immer noch da, "einer der wenigen echten 
Kreuzberger", sagt er stolz. Der Vater kam aus der Türkei, die Mutter 
aus Kroatien, ungewöhnlich an der Kiez-Biografie des 34-jährigen 
Rechtsanwalts ist nur dieses: Husein ist Mitglied der CDU, Vorsitzender 
der Kreuzberger Union. 
Die CDU ist eine Splitterpartei, hat nur vier von 50 Sitzen in der Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg. Husein kann sicher sein, dass sein Antrag abgelehnt wird, den er für die Sitzung an diesem Mittwoch eingebracht hat: "Keine Toleranz gegenüber Drogendealern - Görlitzer Park für die Bürger zurückgewinnen!", hat er ihn überschrieben. Er fordert, den Park nachts abzuschließen, die Zahl der Eingänge zu reduzieren und die verbliebenen durch Wachschützer kontrollieren zu lassen. Polizei und Ordnungsamt sollen dauerhaft im Park präsent sein. In den Moscheen und bei den türkischen Händlern im Kiez werde er gelobt für seine Vorschläge, sagt Husein. "Die wollen alle klare Kante. Die wollen auch Videoüberwachung."
Mittlerweile sucht auch das linke Bürgertum nach Auswegen aus der 
Misere. Martin Düspohl, der das Kulturamt leitet und kürzlich ein 
internationales Hearing zur kontrollierten Abgabe von Cannabis 
organisierte, wohnt direkt am Park und kommt gerade von einer USA-Reise 
zurück. "In New York sind die Parks nachts abgeschlossen", sagt er, "und
 niemand stört sich daran. Die Sauberkeit und den Ausgleich der 
Nutzungswünsche regeln dort Angehörige der Nutzercommunitys selbst - 
bezahlt und in Uniform. Die Respektlosigkeit anderen gegenüber, die gibt
 es dort nicht." 
Respekt - das ist genauso ein Kreuzberger Wort wie Toleranz. Von Respekt
 spricht auch Lorenz Rollhäuser. Er will statt Polizisten "Parkworker" 
auf Patrouille schicken, "Leute, denen man Respekt entgegenbringt". Es 
wäre eine Kreuzberger Lösung. Saddiq aus Gambia wäre vielleicht ein 
Kandidat dafür. Aber für so eine Lösung könnte es bereits zu spät sein.
"Brauchst du was?" "Heute nicht." "Gras?" "Nein." "Für'n Zehner?" "Nein." "Koks? Pillen?"
