Leipziger Student berichtet vom basisdemokratischen Experiment im kurdischen Teil Syriens
Seit Juli wird die kurdische Region Rojava in Syrien vom sogenannten Islamischen Staat (IS) belagert. Ein Versuch basisdemokratischer Selbstverwaltung, der dort mitten im syrischen Bürgerkrieg startete, stehe damit seit Monaten auf dem Spiel, sagt Xalil, der seinen bürgerlichen Namen aus politischen Gründen nicht nennen will, im Gespräch mit dem kreuzer. Der Leipziger Student ist Teil des Unterstützernetzwerks »Tatort Kurdistan« und war Ende September mit einer Delegation der Vereinigung der Studierenden Kurdistans vor Ort.
kreuzer: Ende September, das war ja genau die Zeit, als der IS mit einem Großangriff auf die Stadt Kobanê begann, wodurch man in hiesigen Medien überhaupt zum ersten Mal von der Region Rojava hörte. Warum warst du da?
XALIL: Die Reise war schon länger geplant und fiel eigentlich eher zufällig mit der heißen Konfliktphase zusammen. Der Plan war, die kurdischen Autonomie-Gebiete in Syrien kennenzulernen.
kreuzer: Trotzdem ist es ja vielleicht doch eine mutige Entscheidung dorthin zu fahren. Wo warst du genau und wie hast du die Situation vor Ort wahrgenommen?
XALIL: Wir waren ja nicht in Kobanê, wo die Angriffe so massiv waren, sondern in Cizîre. Das ist der östlichste von drei Kantonen, also den selbstverwalteten kurdischen Provinzen. Zwischen Cizîre und Kobanê liegt ein Korridor von 100 Kilometern. Es gab in der Umgebung zwar auch einzelne Scharmützel, aber diese vehementen Angriffe, die man hier in Deutschland wahrgenommen hat, waren woanders. Von außen wirkt das wie ein entgrenzter Krieg, der die ganze Region Rojava umfasst, vor Ort sieht das ein bisschen anders aus. Innerhalb der Gebiete und in der Stadt Cizîre, wo wir waren, gibt es ja trotzdem so was wie einen Alltag. Natürlich war die Situation angespannt, wirkte auf mich aber auch besonnen. Wir waren dort die ganze Zeit in Begleitung unterwegs. Cizîre selbst ist komplett befreit und ich habe mich den Umständen entsprechend sicher gefühlt.
kreuzer: Befreit? Was meinst du damit?
XALIL: Als der Aufstand vor allem im Westen von Syrien 2011 losging, hat Assad seine Truppen aus diesem Gebiet zwischenzeitlich herausgezogen. Anfang 2012 gab es dann in der mehrheitlich kurdisch bewohnten Region Rojava einen weitgehend friedlichen Aufstand. Die Bevölkerung hat die Regierungsgebäude umzingelt und den übrig gebliebenen syrischen Regierungsleuten gesagt: Wir brauchen euch nicht mehr, ihr könnt einfach gehen, wir bauen jetzt hier unsere Selbstverwaltung auf und werden uns auch selbst verteidigen. Als der Bürgerkrieg in Syrien losbrach, gab es schnell den Plan, im Westen des Landes eigene Vorstellung von einer Gesellschaft umzusetzen.
kreuzer: Wie sehen diese aus?
XALIL: Die Region Rojava steht seither unter Selbstverwaltung. Das heißt, es gibt in allen Dörfern, Gemeinden und Städten eine Kommunenorganisierung. Die Selbstverteidigungsmilizen, wie die YPG zum Beispiel, kämpfen in den Randgebieten. Das sind geschlossene Territorien, es gibt an sich einen klaren Grenzverlauf, also eine Front. Keine Gräben oder so was, sondern eher Frontdörfer, wo dann klar ist, das nächste Dorf ein paar Kilometer weiter wird vom IS kontrolliert.
kreuzer: Mehr als zwei Millionen Syrer flüchten vor dem Bürgerkrieg und dem IS, schätzungsweise eine halbe Million Menschen sind im Irak vor den Kämpfern der IS-Terroristen auf der Flucht. Die Flüchtlinge sind zum größten Teil wehrlos. Die kurdischen Gebiete sind Ausnahmeregionen, hier gelingt es offenbar, Widerstand zu leisten und dem IS etwas entgegenzusetzen. Wie ist das möglich?
XALIL: Es ist maßgeblich die Bevölkerung, die da kämpft. Das sind natürlich mehrheitlich Kurden, dazu kommen aber noch andere ethnische und religiöse Gruppen, vor allem Suriani, also christlich-orthodoxe, aramäische und auch syrische Christen, dann gibts noch arabische Dörfer, die sich zum Teil auch in der Selbstverwaltung von Rojava organisieren. Aus dieser Selbstverwaltung heraus wurde seit 2011 eine Art Miliz-System aufgebaut. Das Know-how liefern vor allem die Leute von der YPG, die vor Ort militärisch ausbilden und die Selbstverteidigung militärisch unterstützen. Im Lauf der Zeit haben sich der YPG auch andere Milizen angeschlossen, sogar islamische Gruppen wie die FSA-Verbände, ein loser Bund verschiedener bewaffneter Oppositionsgruppen in Syrien. Ich glaube, was die vereint, also was die Motivation und Vehemenz in der Selbstverteidigung ausmacht, ist die gesellschaftliche Basis. Sie führen keinen Angriffskrieg, sie stellen ihre Kampfkraft dem demokratischen Projekt zur Verfügung.
kreuzer: Du sprichst von Selbstverteidigung eines demokratischen Projekts und warst ja auch selbst vor Ort. Vielleicht kannst du mal konkret sagen, was diese demokratische Basis ausmacht?
XALIL: Sie sagen, sie kämpfen für die Möglichkeit, sich Freiheit in der Lebensform zu geben; dafür, entscheiden zu können, wie man kollektiv leben will, für individuelle Freiheiten, die man im Einklang mit dem Kollektiv gewährleisten kann. Ein Beispiel ist Religion, die im Mittleren Osten ja ganz allgemein eine wichtige Rolle spielt. Das Spannende in Rojava ist, dass es eigentlich keine Konflikte entlang von Glaubenslinien gibt. Obwohl dort Sunniten, Araber, Kurden und Christen aufeinandertreffen. Seit dem Massaker von Shingal sind dort auch viele Jesiden. Trotzdem gibt es eine unglaubliche Solidarität zwischen diesen Gruppen, es ist die Idee von der eigenen Identität, einer eigenen Organisierung – und das ist, glaube ich, das, was die Autonomie ausmacht. Eine weitere Besonderheit im Unterschied zu den umliegenden Gebieten ist, dass Frauen hier nicht mehr in dem Maße in der Familie gefangen, sondern Teil der Gesellschaft sind. Zum Beispiel haben wir Sicherheitskomitees der Frauen besucht, die für Frauen immer eine Anlaufstelle bei Gewalt und Schutzbedarf darstellen. Beeindruckt hat mich auch ein Ort, an dem ein autonomes Zentrum für Selbstbildung von Frauen aufgebaut wurde, wo Frauen aus allen gesellschaftlichen Bereichen teilnehmen können. Als wir dort waren, haben gerade etwa 30 Frauen, im Alter von 17 bis 67 Jahren, an einer 25-tägigen Bildungsveranstaltung teilgenommen.
kreuzer: Es war ja kein Problem, beispielsweise deutsche Milan-Raketen an die Peschmerga zu schicken, die auf irakischem Territorium gegen den IS kämpfen. Aber die internationale Gemeinschaft, abgesehen von den USA, die zumindest Luftangriffe fliegen, tut sich offenbar schwer, die Kurden in Syrien mit Waffen auszurüsten. Woran liegt das?
XALIL: Die Kurden in Rojava sind nicht die Peshmerga. Die Peshmerga sind die bewaffneten Kräfte zweier anderer kurdischer Parteien, die vor allem im Nordirak die Kontrolle haben. Das sind historisch ganz andere Gruppierungen. Früher haben sie im Nordirak vor allem gegen Saddam Hussein für einen kurdischen Staat gekämpft, und das ist bis heute ihr Ziel. Seit dem Golfkrieg 1991 sind sie als Verbündete der USA und der NATO unterstützt worden und seit 2003, also seit Einrichtung der Flugverbotszone im Nordirak und der Invasion der US-Streitkräfte, sind sie die Hauptverbündeten des Westens vor Ort. Sie sind politisch, militärisch und diplomatisch sehr leicht kontrollierbar und wurden als eine lokale Unterstützungsbasis aufgebaut.
kreuzer: Und die syrischen Kurden?
XALIL: Die Bewegung, die sich in der Region Rojava formiert hat, ist eine Struktur, die klar zusammenhängt mit dem Kampf der PKK. Seit 1979 war die PKK ja ein Stück weit geduldet in Syrien, wodurch sie in den dortigen kurdischen Gegenden fest verankert ist. Die ideologische Linie ist die spannende. Sie sagen, das Problem ist nicht, keinen eigenen, kurdischen Staat zu haben, sondern die Idee des Staates an sich. Deshalb müssen sich alle Menschen außerhalb der staatlichen Organisationen eigene Institutionen aufbauen, die nicht mehr zentral und einheitlich sind, sondern das, was der Staat nicht ermöglichen kann: den Menschen die Möglichkeit zu geben, selbst über ihr Leben zu entscheiden und sich darüber frei auszutauschen, sich selbst zu bilden, die eigene Verantwortlichkeit ernst zu nehmen. Eben dann auch in der Selbstverteidigung. Als der IS im Irak angriff, sind die Peshmerga weggelaufen. Die Selbstverteidigungseinheiten haben gekämpft. Die NATO-Staaten haben natürlich ein riesiges Problem mit so einer nichtstaatlichen Bewegung, die im Zweifelsfall nicht zu vereinnahmen ist. Deshalb tun sie sich schwer damit, Waffen an andere als ihre Verbündeten zu geben, auch wenn ihnen klar ist, dass gerade die YPG den IS aufhalten kann.
kreuzer: Du würdest also sagen, der sogenannte Westen, der permanent versucht, demokratische Strukturen nach hier oder dort zu exportieren, hat ein Problem mit den basisdemokratischen Strukturen dort?
XALIL: »Demokratie« ist ja nicht gleich Demokratie. Ein Freund vor Ort hat das ganz gut auf den Punkt gebracht: Für sie ist Demokratie, wenn die Bevölkerung, die Gesellschaft, sich eigene Institutionen gibt, wenn sie sich eine Regierung wählt, die dann ausführt, was die Gesellschaft in ihren Versammlungen für klug befindet. Eine Diktatur ist, wenn die Bevölkerung eine Regierung wählt, die der Bevölkerung dann sagt, was sie tun soll. Es geht hier eben auch sehr stark um eine Aneignung von einem neuen Verständnis von Demokratie. Das Verständnis von Demokratie, das die kurdische Gesellschaft seit 25 Jahren vertritt und auch immer wieder erneuert und verbessert, ist nicht deckungsgleich mit dem gängigen westlichen Konzept von Demokratie.
Am 17.11., 20 Uhr, wird im Conne Island zum Thema diskutiert, Titel der Veranstaltung: »Kobanê zwischen Selbstverwaltung und Krieg«
INTERVIEW: JENNIFER STANGE