Wenn jemand ausrastet, könne sie das zwar nicht
gutheißen, sagt Monika Herrmann, aber „nachvollziehen“. Seit Wochen versucht die
Bürgermeisterin den Streit um das Flüchtlingscamp am Oranienplatz zu schlichten.
Aber in der Grünen-Hochburg Kreuzberg geht es um sehr viel mehr. Von Armin Lehmann.
In diesen Wochen schaut mal wieder die halbe Republik nach Kreuzberg. Von hier aus erhielt schon manche politische Auseinandersetzung grundsätzliche Bedeutung. Hausbesetzungen, Migration, Integration und Gentrifizierung – oft wird hier im Kleinen auch große Politik gemacht. Dieses Mal mittendrin: Monika Herrmann, seit August Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg.
Auch jetzt geht es nicht nur um ein paar Schlafzelte von Flüchtlingen am Oranienplatz, die geräumt werden sollen. Es soll auch über Europas Verantwortung diskutiert werden, über den Missstand, dass es in Deutschland für Asylbewerber eine Residenzpflicht gibt, aber ein genormtes europäisches Asylrecht nicht.
Solidarität mit Flüchtlingen
Monika Herrmann, 49, Diplom-Politologin, sitzt in ihrem Büro im ersten Stock des Bezirksamts in der Frankfurter Allee. Sie trägt Jeans und dunkelgrünen Kapuzenpulli und macht darin einen entspannten Eindruck. Manchmal lacht sie so laut, dass ihr schmaler Körper bebt. Das Lachen macht ihre Gesichtszüge weich. Sie lässt sich auf alle Fragen ein, reflektiert, argumentiert, manchmal ruft sie kritisch: „So bin ich nicht!“, wenn sie sich falsch beschrieben fühlt. Nur einen Moment gibt es in diesem Gespräch für sie nicht – einen Moment des Zweifelns.
„Politisches Mahnmal“ hat die Bürgermeisterin den Oranienplatz ursprünglich einmal genannt, als es noch keine Lösung dafür gegeben hatte, die Flüchtlinge andernorts unterzubringen. Es war so symbolisch gemeint, wie es klang. Denn die generelle Haltung der Grünen ist eindeutig und lautet sinngemäß: Wir können das europäische Asyl-Problem hier zwar nicht lösen, aber wir akzeptieren, dass es Proteste gegen diese Missstände gibt. Mahnmal, das bedeutete auch: Unsere Solidarität habt ihr!
Nichtszweifeln am eigenen Tun
Auch in dem hässlichen Funktionsgebäude, in dem Herrmann ihr Büro hat, kann man im Gespräch mit ihr einiges lernen über die sehr spezielle, ja sture Art der Grünen, Haltung zu demonstrieren. Das Nichtzweifeln am eigenen Tun etwa passt ins Selbstbild. Kreuzberg, nun Friedrichshain-Kreuzberg, ein gallisches Dorf, Widerstandsnest gegen soziale Ungerechtigkeit, auch Kurort und Streithort der multikulturellen Gesellschaft. Mal verspottet, mal bewundert. Angeführt und seit 1996 regiert und verwaltet von den Grünen, einer mächtigen 33-Prozent-Partei.
Wie muss man ticken, wenn man hier politische Verantwortung trägt?
Monika Herrmann steht in der Tradition des legendären Bürgermeisters Franz Schulz, dem sie im August dieses Jahres ins Amt folgte, weil er aus gesundheitlichen Gründen aufhören musste. Schulz hat das Camp von Beginn an im Herbst 2012 geduldet. Nun wird genau beobachtet, ob sie seinem Erbe gerecht wird.
Politik der Runden Tische
Das Erbe besteht aus einer Politik der Runden Tische, ist basisdemokratisch, dialogorientiert. Es geht um das Abschmelzen politischer Gegensätze. Und um Moral. Schulz hatte nie ein Problem damit, Grünen-Politik als „moralisch“ zu bezeichnen: „Uns wird das Bewahrende zugeschrieben, in diesem Sinne sind wir konservativ, und wir sind moralisch, weil wir uns um die Zukunft des Lebens kümmern.“
Monika Herrmann spricht lieber von „Verantwortung“. Ihr „Vertretungsanspruch“ für die Flüchtlinge, wie sie es formuliert, habe sie doch schon von Amts wegen. Sie sagt: „Wir sind politisch verantwortlich, und wir waren lange Zeit die Einzigen, die sich überhaupt ins Gespräch begeben haben. Diese Menschen brauchen uns, um ihr Menschenrecht umzusetzen und um eine Stimme zu haben.“
Die Grundlage dieser Verantwortung, die sie spürt, entspringt ihrer Erziehung und Herkunft.
Katholische Soziallehre und Caritas
Sie hätte auch CDU-Mitglied werden können, ist geprägt von der katholischen Soziallehre und einem christlichen Elternhaus, in dem Nächstenliebe gelebt wurde. Geboren in Neukölln, aufgewachsen im Ortsteil Rudow. Mutter Annelies und Vater Dieter Herrmann waren aktive CDU-Politiker und viele Jahre im Caritas-Verband engagiert. Das Ökologische, das Bewahrende, das Soziale sind Grundpfeiler ihrer Überzeugungen.
Aber dann hat es der Vater vermasselt. Sie lacht. Er wollte, dass seine Tochter sich wenigstens einmal ein Bild von der CDU macht und diese nicht ungesehen ablehnt. Er nimmt sie Anfang der 80er Jahre mit zur „Feuerzangenbowle“, einer Veranstaltung der Jungen Union (JU).
Man muss dazu wissen, dass die JU-Neukölln zu den damals eher stramm konservativen Verbänden gehörte, die Meinungen über Themen wie Asyl oder Hausbesetzungen waren ziemlich eindeutig – und weit entfernt von den Vorstellungen der sich gerade politisierenden Monika Herrmann. Zwei Stunden hält sie es aus, dann flüchtet sie mit den Worten: „Ist ja noch schlimmer, als ich gedacht habe.“ Der Vater hätte es wissen müssen.
Eine politische Wegbegleiterin aus dem Umfeld der Familie sagt: „Die Grundhaltung von Eltern und Tochter sind übereinstimmend. Aber gerade in der Asylpolitik der 80er und 90er Jahre haben Vater und Mutter ihre Haltung in der Partei nicht offen artikuliert. Die Tochter setzt fort, was die Eltern nicht geschafft haben.“ Und die Eltern seien stolz darauf.
Befreiungstheologie und Gesellschaftskritik
Das Autoritäre, Hierarchische, die mangelnde Zivilcourage, auch der eigenen Eltern in der CDU, geht Herrmann gegen den Strich, sie ist fasziniert von der Befreiungstheologie. Vom Mut der Bewegung! Heute, in ihrem Büro, gibt sie zu, dass sie sich vor zehn Jahren noch nicht offen zu dieser Prägung bekannt hätte. Auch im Feminismus und der Frauenbewegung, in der Herrmann die ersten politischen Schritte unternimmt, gibt es Zweige, die sich mit den Befreiungstheologen beschäftigen. Kurz gesagt, interpretierten diese aus der Situation sozial Benachteiligter heraus die biblische Tradition als Impuls für Gesellschaftskritik.
Viele Wutbürger, die einst die grüne Bewegung etablierten, kommen auch aus dieser christlichen Linie. Die Verhältnisse ändern, basisdemokratische Strukturen aufbauen, Bürgerversammlungen einberufen – das sind keine Kreuzberger Erfindungen. Womit wir bei der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) vom vorvergangenen Mittwoch wären, die es in viele Nachrichtensendungen des Landes schaffte. Im Vorfeld war Herrmann die Unterbringung der Flüchtlinge mithilfe des Senats und der Kirchen in ein festes Haus in Wedding gelungen, aber die Räumung der Zelte misslang, weil die radikalen Gegner der geltenden Asylpraxis neue Flüchtlinge zum Oranienplatz gebracht hatten.
Keine Angst vor niemandem
Innensenator Frank Henkel (CDU) forderte Herrmann zudem zunächst ultimativ auf, das Camp bis zum 16. Dezember räumen zu lassen. Eskalation lag in der Luft. Die BVV wurde von 250 überwiegend linksautonomen Demonstranten besetzt – und die Anliegen der Flüchtlinge, von denen viele aus Afrika über die Insel Lampedusa nach Deutschland gekommen waren, spielten nur noch eine Nebenrolle. Es war eine außergewöhnliche, chaotische Sitzung. Über 400 Menschen, Medienleute, Flüchtlinge, Autonome drängten schließlich in den Bürgersaal, die Stimmung war aggressiv.
Wurde hier nicht die Bezirkspolitik instrumentalisiert und erpresst für eine Politik, die sie nicht zu verantworten hat – oder war Herrmann selbst schuld?
Tags zuvor, und obwohl sie ja ahnte, dass diese BVV-Sitzung von Demonstranten gestürmt werden würde, war sie mit Freunden im Deutschen Theater gewesen, hatte sich ein Schülerstück angesehen. „Im Theater kann ich am besten abschalten“ , sagt sie.
Chaos bei der BVV
Am Mittwochabend steht sie mitten im Chaos, schwarze Funktionsjacke, einmal fast Nase an Nase mit einem der radikalen Demonstranten. Sie redet auf ihn ein, hält ihm den Zeigefinger gegen die Brust. Sie ist gefasst, mutig und spricht Klartext. „Du hast eine Aufenthaltsgenehmigung!“ Sie bringt die Sitzung in vier Stunden und mit Übersetzung ins Englische hinter sich. Den Ruf „Monika, halt die Fresse“ hört sie, ignoriert ihn aber. Viele Menschen außerhalb Kreuzbergs schütteln die Köpfe, Herrmann sagt: „Wieso, das war doch gut.“
Diese „Bürgerversammlungen“, davon ist Herrmann fast beseelt, dürfen nicht nur nach „genormten, administrativen Ritualen“ ablaufen – denn die Menschen treibe Angst, Wut und Hilflosigkeit. Wenn dann jemand ausrastet, könne sie das zwar nicht gutheißen, aber „nachvollziehen“. Jetzt redet sie schon wie eine Predigerin. Und ist ganz bei sich, das merkt man.
Peter Strieder, Ex-Senator und auch mal Bürgermeister in Kreuzberg, erinnert sich an Herrmann als Praktikantin, die „damals noch auf der Suche nach ihrer politischen Orientierung war“. Heute habe sie die gefunden und gefestigt. Er hat Respekt. Jeder, der über sie spricht, betont ihre Klarheit, aber auch ihren Ehrgeiz, den starken Willen, Dinge anzupacken. Eine politische Freundin sagt: „Immer eine endgültige gute Lösung zu finden, ist Teil von Monikas Antrieb.“
Sie selbst hält sich für „zu ungeduldig und zu emotional“, aber sie lernt jetzt täglich dazu, was sie nicht immer glücklich macht. Sie hat gemerkt, dass sie in diesem Amt plötzlich die Worte intensiver abwägt, dabei hasst sie „den Politikersprech“, will sich davon unterscheiden, anders sein. Auch aus Prinzip.
Legaler Cannabis-Verkauf
Kürzlich hat Monika Herrmanns Mutter einer Bekannten stolz erzählt, dass sie die Legalisierung des Cannabis-Verkaufs, den ihre Tochter nun in Friedrichshain-Kreuzberg als Modellprojekt anstrebt, für richtig halte. Als die Grünen Ende der 80er Jahre die ersten Anträge zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften im Abgeordnetenhaus stellten, waren sie verwundert: Immer stimmte eine einzige CDU-Abgeordnete mit ihnen. Annelies Herrmann. Allerdings hat sie das der Tochter nie verraten.
Erst durch einen Grünen-Politiker erfuhr Monika Herrmann, die mit ihrer Homosexualität offen umgeht, von der Solidarität ihrer eigenen Mutter. Wenn man heute mit ihr darüber spricht, entsteht ein seltener Augenblick offener Rührung. Sie ist nicht so streng, wie sie manchmal rüberkommt.
Aber sie kann eben auch sehr bestimmend sein. Dann wirkt sie auf andere unbarmherzig. Sie und die Grünen im Bezirk vertreten ihre Grundanliegen vehement. Einmal haben Eltern versucht, gemeinsam mit der evangelischen Kirche eine Schule in Kreuzberg zu gründen, Herrmann war damals Schulstadträtin. Die Grünen wollten „keine Entmischung“, und Herrmann sprach öffentlich von einer „Eliteschule“. In kleiner Runde wurde sie sehr deutlich. Einer der Elternvertreter erinnert sich: „Sie hat uns klar zu verstehen gegeben, dass mit ihr eine solche Schule niemals zu machen sei.“
Leben mit kämpferischen Debatten
Heidi Kosche, Grünen-Abgeordnete und Vertraute von Monika Herrmann, hat die Ablehnung einmal so begründet: „Auch das bürgerliche Publikum muss wissen, dass es für uns immer ein höheres Ideal gibt als das Interesse des Einzelnen. Bei der Bildungspolitik etwa muss das aus unserer Sicht Richtige über dem Einzelinteresse stehen.“
Und so lässt Monika Herrmann die täglichen Beschimpfungen und Drohungen von rechts und links an sich abperlen. Der wilde Dialog, die Wutausbrüche und Anfeindungen, Versuche, sie zu diskreditieren, gehören für Herrmann zur genetischen Struktur des Ortes. Sie lebt seit 20 Jahren in diesem Milieu, hat immer schon nächtelang diskutiert und gestritten. Jetzt entscheidet sie eben auch noch.
Was sie gerade über sich selbst gelernt hat? Da überlegt sie lange und sagt leise: „Dass ich mir keine Angst habe machen lassen.“ Pause. „Von niemandem.“